Die Arche
wenigen hermetisch abgeschlossenen Enklaven noch
frei bewegen. Die Gebäude verformten sich zu grotesken
Karikaturen ihrer selbst und konfrontierten die Demarchisten
ständig mit dem, was sie verloren hatten. Die Technik fiel auf
eine fast präindustrielle Stufe zurück. In der kriminellen
Unterwelt der Stadt trieben räuberische Banden ihr Unwesen.
Dieses finstere Zeitalter dauerte fast vierzig Jahre.
Ob die dritte Phase bereits beendet war oder unter anderer
Verwaltung noch anhielt, war umstritten. Durch die Seuche hatten die
Demarchisten viele ihrer früheren Einkommensquellen verloren.
Die Ultras suchten sich andere Handelspartner. Ein paar hochgestellte
Familien hielten sich noch, und im Rostgürtel gab es
immer noch Nester finanzieller Stabilität, aber Chasm City
selbst war reif für eine wirtschaftliche Übernahme. Die
Synthetiker, die sich bisher auf einige schmale, über das ganze
System verteilte Nischen beschränkt hatten, sahen ihre Stunde
gekommen.
Es war keine Invasion im üblichen Sinn. Dazu waren sie
zahlenmäßig und militärisch zu schwach, und sie
hatten auch nicht das Bedürfnis, die ganze Bevölkerung zu
ihrer Denkweise zu bekehren. So hatten sie die Stadt nur Stück
für Stück aufgekauft, um sie in neuer Pracht wiedererstehen
zu lassen. Die achtzehn miteinander verbundenen Kuppeln wurden
abgerissen. Im Abgrund wurde eine riesige biotechnische Anlage
mit Namen Lilly eingerichtet, die den Wirkungsgrad bei der chemischen
Umwandlung der aufsteigenden Gase um ein Vielfaches erhöhte. Die
Stadt war jetzt von einer Tasche aus warmer, atembarer Luft umgeben,
die von Lillys Ausdünstungen gespeist wurde. Viele der
verformten Gebäude waren durch elegante Türme ersetzt
worden, die, schmal wie Schwertklingen, weit über die
Atemluftzone hinausragten und sich wie die Segel einer Jacht drehen
konnten, um dem Wind möglichst wenig Angriffsfläche zu
bieten. Behutsam fing man an, neue, widerstandsfähigere Formen
der Nanotechnologie in die Umwelt einzuführen. Die medizinische
Forschung der Synthetiker erlaubte sogar eine Wiederaufnahme der
Langlebigkeitstherapien. Die Ultras witterten Morgenluft und bezogen
Yellowstone aufs Neue in ihre Handelsrouten ein. Im Orbit um den
Planeten ging die Neubesiedelung des Rostgürtels mit
Riesenschritten voran.
Es hätte ein Goldenes Zeitalter werden können.
Doch die Demarchisten, die ehemaligen Herren der Stadt, konnten
sich nicht damit abfinden, dass die Zeit über sie hinweggegangen
war. Sie haderten mit ihrem Machtverlust. Jahrhundertelang waren sie
die einzigen Verbündeten der Synthetiker gewesen, doch das
änderte sich. Nun suchten sie sich mit Gewalt
zurückzuholen, was sie verloren hatten.
»Sehen Sie den Abgrund, Mr. Clavain?« Sein
Gastgeber zeigte auf einen elliptischen schwarzen Fleck, der im
Gewirr der Türme fast verschwand. »Es heißt, Lilly
läge im Sterben. Die Synthetiker wurden vertrieben und
können sie nicht mehr am Leben erhalten. Die Luftqualität
wird ständig schlechter. Schon munkelt man, die Stadt
müsste wieder überkuppelt werden. Aber vielleicht
können die Synthetiker ihr einstiges Eigentum ja schon bald
wieder in Besitz nehmen?«
»Die Lage lässt kaum einen anderen Schluss zu«,
sagte Clavain.
»Ich muss zugeben, dass es mir egal ist, wer den Krieg
gewinnt. Ich konnte mein Leben fristen, bevor die Synthetiker kamen,
und ich bin auch nicht verhungert, nachdem sie abgezogen waren. Ich
weiß nicht, wie es unter den Demarchisten zuging, aber ich bin
sicher, dass ich auch damals Mittel und Wege gefunden hätte,
meinen Unterhalt zu verdienen.«
»Wer sind Sie?«
»Vielleicht sollten Sie besser fragen, wo wir sind.
Schauen Sie nach unten, Mr. Clavain.«
Clavain gehorchte. Schon der Fernblick hatte ihm verraten, dass er
sich in einem hohen Gebäude befand, aber wie hoch es
tatsächlich war, erfasste er erst jetzt. Es war, als stünde
er dicht unter dem Gipfel eines ungeheuer hohen und steilen Berges
und schaute tausende von Metern hinab auf kleinere Gipfel und
Höhenzüge, die ihrerseits die meisten umliegenden
Gebäude überragten. Der höchste Luftkorridor lag weit
unter ihm; er konnte erkennen, dass ein Teil des Flugverkehrs direkt
durch die Gebäude ging und die Maschinen durch riesige
Bögen und Portale hinein- und herausglitten. Darunter lagen
weitere Flugkorridore, und dann folgte ein dichtes Netz von
Hochstraßen. Noch weiter in der Tiefe konnte er nur noch
verschwommen – wie verblichene Einträge auf
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