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Die Arche

Die Arche

Titel: Die Arche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alastair Reynolds
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eigenen Reihen: ein
Verräter vielleicht oder ein Deserteur.
    Der Soldat riss die Decke weg.
    Der Gefangene hatte sich zusammengerollt wie ein Fötus. Als
ihn das Licht traf, quiekte er auf und kniff die schmerzenden Augen
zu.
    Clavain riss die Augen weit auf. Damit hatte er nicht gerechnet.
Nach seiner Größe und den Körperproportionen
hätte man das Wesen auf den ersten Blick für einen
halbwüchsigen Menschen halten können. Einen nackten
Menschen obendrein – rosiges, menschlich aussehendes Fleisch
ohne jede Kleidung. Am Oberarm war die Haut großflächig
verbrannt und übersät mit wulstigen Narben, die teils
leichenhaft weiß, teils hellrot leuchteten.
    Clavain hatte ein Hyperschwein vor sich: eine genetische
Chimäre aus Schwein und Mensch.
    »Hallo«, sagte er laut. Der Helmlautsprecher
verstärkte seine Stimme.
    Das Schwein schnellte so plötzlich in die Höhe wie eine
gespannte Feder. Niemand war darauf gefasst. Es hielt einen
länglichen Metallgegenstand in der Faust und stieß mit
aller Kraft zu. Als das blitzende Ding Clavains Brust traf, gab es
einen Ton wie eine Stimmgabel. Die Spitze schrammte über den
Panzer, wo sie nur einen dünnen, glänzenden Kratzer
hinterließ, fand aber dann die Stelle unweit der Schulter, wo
zwei Platten übereinander lagen und glitt in die Fuge. In
Clavains Helm begann schrill eine Sirene zu heulen. Die Klinge war
eingedrungen. Clavain fuhr zurück, bevor sie auch die innere
Anzugschicht durchstoßen und seine Haut berühren konnte,
und prallte mit lautem Krach gegen die Wand in seinem Rücken.
Das Schwein ließ die Waffe fallen. Sie trudelte davon wie ein
schlingerndes Schiff. Jetzt sah Clavain, dass es sich um ein
Piezomesser handelte, er hatte ein ganz ähnliches im
Werkzeuggürtel seines Raumanzugs. Das Schwein musste es einem
der Demarchisten gestohlen haben.
    »Wir fangen noch einmal von vorne an«, sagte er, als er
wieder zu Atem gekommen war.
    Die anderen Synthetiker hatten das Schwein überwältigt.
Clavain untersuchte seinen Anzug und rief den Schadensbericht ab. Ein
kleines Leck nahe der Schulter. Zwar bestand keine Erstickungsgefahr,
aber er konnte nicht ausschließen, dass es auf dem feindlichen
Schiff Giftstoffe geben könnte, die bislang unentdeckt geblieben
waren. Fast mechanisch löste er ein Dichtungsspray von seinem
Gürtel, wählte eine Düse in passender Größe
und besprühte die Schadstelle mit schnell härtendem Epoxid.
Die graue Paste erstarrte zu einer schneckenförmigen Zyste.
    Irgendwann vor der Ära der Demarchisten, im einundzwanzigsten
oder zweiundzwanzigsten Jahrhundert, nicht lange vor Clavains Geburt,
hatte man ein ganzes Spektrum von menschlichen Genen in das Genom des
Hausschweins integriert, um die Transplantation von Organen zwischen
den beiden Spezies so weit wie möglich zu erleichtern. Man
wollte Schweine züchten, deren Körperteile sich später
für Menschen verwenden ließen. Inzwischen gab es schon
seit Jahrhunderten bessere Methoden, um geschädigtes Gewebe zu
reparieren oder zu ersetzen, doch die Experimente mit den Schweinen
waren nicht ohne Folgen geblieben. Der genetische Eingriff war zu
weit gegangen, man hatte nicht nur artenübergreifende
Kompatibilität erreicht, sondern etwas ganz und gar Unerwartetes
geschaffen: Intelligenz.
    Niemand, nicht einmal die Schweine selbst, konnte genau sagen, wie
das zugegangen war. Vielleicht hatte man nicht gerade gezielt
versucht, Schweine zu erzeugen, deren kognitives Niveau dem der
Menschen vergleichbar war, aber dass die Schweine sprechen gelernt
hatten, war sicher kein Zufall. Nicht alle verfügten über
diese Gabe – es gab verschiedene Gruppen mit sehr
unterschiedlichen mentalen und sprachlichen Fähigkeiten –,
aber bei denen, die sprechen konnten, hatte jemand manipuliert, der
genau wusste, was er wollte. Nicht genug damit, dass man dem Gehirn
die entsprechenden Grammatikstrukturen einprogrammiert hatte. Man
hatte auch Kehlkopf, Lunge und Kiefer dahingehend verändert,
dass sie menschliche Sprachlaute erzeugen konnten.
    Clavain trat langsam näher und sprach den Gefangenen an.
»Kannst du mich verstehen?«, fragte er zuerst auf Norte und
dann auf Canasisch, der Hauptsprache der Demarchisten. »Mein
Name ist Nevil Clavain. Du befindest dich in der Obhut der
Synthetiker.«
    Das Schwein konnte mit seinen umgeformten Kiefern und seiner
Kehlkopfanatomie menschliche Laute hervorbringen, die einwandfrei
verständlich waren. »Ist mir doch egal, wer mich gerade in
seiner Obhut hat.

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