Die Arche
als Erstes den Sprung ins Leere zu
wagen.
Das ältere Paar sah immer noch aus wie vorher, aber jetzt
konnte Clavain auch seine Gedanken empfangen und spürte die
Ermunterung, die sie um sich verbreiteten. Ihre Mienen drückten
eher heitere Geduld als Verdrossenheit aus. Sie waren bereit, den
Kindern stundenlang Zeit zu lassen.
Auch die Umgebung hatte sich verändert. Es wimmelte nun von
bunten Schmetterlingen und Libellen, die geschäftig durch die
Luft schwirrten. Raupen in leuchtenden Farben krochen durch das Laub.
Kolibris schwirrten von Blüte zu Blüte wie präzise
programmierte Spielzeugvögel. Affen, Lemuren und
Flughörnchen schwebten selbstvergessen, mit starren,
glänzenden Augen durch die leeren Räume.
So sahen die Kinder ihre Welt, und jetzt teilte Clavain diese
Sicht. Bislang kannten sie nichts anderes als diesen Abklatsch aus
dem Bilderbuch, doch mit zunehmendem Alter wurden die Daten, die in
ihre Gehirne strömten, allmählich angepasst. Von einem Tag
auf den anderen waren die Unterschiede nicht wahrnehmbar, aber die
Geschöpfe des Waldes wurden zunehmend realistischer, und ihre
Farben schwächten sich ab, bis schließlich die
natürlichen Grün- und Braun-, Schwarz- und
Weiß-Töne vorherrschten. Die Tiere wurden auch kleiner und
scheuer, bis endlich nur die echten Waldbewohner übrig blieben.
Dann – im Alter von zehn oder elf Jahren – klärte man
sie behutsam darüber auf, dass ihr Bild der Welt bisher von
Maschinen geprägt worden war. Sie erfuhren auch von den
Implantaten, die es ihnen ermöglichten, eine zweite Schicht
über die Wirklichkeit zu legen und sie damit in jede
gewünschte Form zu bringen.
Clavain hatte die Aufklärung weit schonungsloser erlebt. Bei
seinem zweiten Besuch in Galianas Nest auf dem Mars hatte sie ihm die
Kinderabteilung gezeigt, wo die jungen Synthetiker unterrichtet
wurden, aber zu diesem Zeitpunkt hatte er selbst noch keine
Implantate besessen. Erst nachdem er verletzt worden war, hatte sie
seinen Kopf mit den Nanomaschinen gefüllt. Er erinnerte sich
noch gut, wie ihm fast das Herz stehen geblieben war, als er zum
ersten Mal erleben musste, wie seine subjektive Realität
manipuliert wurde. Das Eindringen von zahlreichen anderen
Bewusstseinen in seinen Kopf war nur ein Teil davon gewesen, noch
mehr hatte ihn wahrscheinlich der erste Einblick in die Welt
schockiert, in der sich die Synthetiker bewegten. Die Psychologen
hatten einen Begriff für ein derartiges Erlebnis – sie
sprachen von einem kognitiven Durchbruch –, aber kaum einer von
ihnen hatte es wohl je am eigenen Leib erfahren.
Dann hatten ihn die Kinder entdeckt.
[Clavain!] Einer der Jungen schickte den Gedanken in
seinen Kopf.
Clavain ließ den Wagen mitten auf dem Platz anhalten, auf
dem die Kinder ihren Flugunterricht bekamen, und steuerte den
Fahrgastraum so, dass er ungefähr auf gleicher Höhe mit
ihnen war.
Hallo. Er umfasste das Geländer vor sich wie ein
Prediger die Kanzelbrüstung.
Ein Mädchen sah ihn eindringlich an. [Wo bist du gewesen,
Clavain?]
Draußen. Er sah die Betreuer warnend an.
[Draußen? Außerhalb des Mutternests?],
beharrte das Mädchen.
Er zögerte mit der Antwort. Er hatte vergessen, wie viel
Kinder in diesem Alter schon wussten. Gewiss ahnten sie nichts von
dem Krieg, der draußen tobte. Aber es war schwierig, ein Thema
zu erörtern, ohne damit gleich das nächste anzuschneiden. Außerhalb des Mutternests, ja.
[In einem Raumschiff?]
Ja. In einem sehr großen Raumschiff.
[Kann ich es sehen?], fragte das Mädchen.
Eines Tages wohl schon. Aber nicht heute. Er spürte
die Unruhe der Betreuer, obwohl keiner einen konkreten Gedanken zu
ihm geschickt hatte. Ich glaube, ihr habt jetzt wichtigere Dinge
zu tun.
[Was hast du in dem Raumschiff gemacht, Clavain?]
Clavain kratzte sich den Bart. Er mochte es nicht, Kindern die
Unwahrheit zu sagen, und hatte auch nie so richtig gelernt, sich mit
einer Ausrede aus der Affäre zu ziehen. Eine harmlose
Teilwahrheit erschien ihm am ehesten geeignet. Ich habe jemandem
geholfen.
[Wem hast du geholfen?]
Einer Dame… einer Frau.
[Warum hat sie deine Hilfe gebraucht?]
Ihr Schiff – ihr Raumschiff – war in Schwierigkeiten.
Sie brauchte Beistand, und ich kam gerade vorbei.
[Wie hieß die Dame?]
Bax. Antoinette Bax. Ich habe ihr mit einer Rakete einen Schubs
gegeben, damit sie nicht in einen Gasriesen
zurückstürzte.
[Warum ist sie aus dem Gasriesen gekommen?]
Das weiß ich auch nicht so genau, wenn ich ehrlich
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