Die Artefakte der Macht 01 - Aurian
berauschenden Düfte des erwachenden Frühlings herbei und den altehrwürdigen Moschus der Mutter Erde, die den Samen in sich aufnimmt; das gescheckte Sonnenlicht im Schatten der Buchen und den diamantenen Tanz des lebendigen Baches; das Silber des Mondlichts und die Seide des Morgennebels; das strahlend weiße Leichentuch der Wintertrauer und die alles durchdringende Fülle des Herbstfeuers.
Und etwas veränderte sich. Wie mit dem Umdrehen eines Schlüssels im Schloß, wie das Fallen von Ketten, wie das Offnen der Klauen des Winters, die das Land mit der Ankunft des Frühlings aus ihrem Würgegriff entließen – genauso war jetzt der Wald bereit, ihn zu akzeptieren. Das Heulen erstarb zu einem gedämpften Murmeln, und D’arvan verspürte unendliche Erleichterung, als der Zorn der Bäume nicht länger auf ihn einhämmerte. Die Wurzeln und Ranken lösten ihren Griff und fielen zu Boden, und vor ihm öffnete sich ein Pfad über den aufgewühlten Boden und die Brücke hinweg vor die Tür des Turmes. Mühsam kam D’arvan auf die Beine, dann rannte er los; nur ein einziger, irriger Zweig schlug ihm hart auf den Rücken, um ihn auf seinem Weg voranzutreiben.
Die Ranken, die sich über die Tür gezogen hatten, fielen mit einem schlangenartigen Rasseln hernieder, als D’arvan mit dem Schwert in der Hand näher kam. Als er an ihnen vorbei in die Küche lief, fragte er sich, ob sie wohl hinter ihm herkommen würden, aber irgendeine Gewalt schien sie davon abzuhalten, in das Gebäude einzudringen. Als er die Wendeltreppe erreicht hatte, fand der junge Magusch auch den Grund dafür. Er taumelte zurück und würgte, als er den Geruch böser Magie wahrnahm. Keuchend und mit überströmenden Augen quälte er sich Schritt für Schritt die Metallstufen hinauf, wobei er die glatte Wölbung des Treppengeländers als Halt benutzte.
Die oberen Räume, die von der Treppe abzweigten, waren vollkommen verwüstet. D’arvan zuckte zusammen, als er das Chaos in jedem Zimmer sah. Die Fenster waren zersprungen, die Holzbänke umgeworfen und zersplittert, die zarten jungen Setzlinge zerfetzt und zertrampelt. Jetzt, da er sich dem Gebrauch seiner Kräfte geöffnet hatte, konnte der Magusch das Elend der Pflanzen beinahe körperlich spüren; ihre winzigen, lautlosen Schmerzensschreie gellten durch seine Gedanken und zerrissen ihm das Herz. Aber von Eilin oder Davorshan war nirgends etwas zu sehen, und so sehr er sich auch bemühte, es gelang ihm nicht länger, Eilins Gedanken zu erreichen. Während er weiter nach oben stieg, suchte er in jeder einzelnen der verlassenen Kammern und fand nur überall dieselbe entsetzliche Zerstörung. Dann, als er um die letzte Biegung der Treppe ging, blieb er plötzlich stehen. Am oberen Ende der Treppe stand eine Gestalt mit einem Schwert in der linken Hand, von dem das Blut herabtropfte. Davorshan. Bei D’arvans Anblick verzog sich sein Gesicht zu einem grausamen, höhnischen Grinsen. »Sei gegrüßt, Bruder«, sagte er. »Dich zu finden hat länger gedauert, als ich dachte – aber dein Tod wird mich für all die Tage des Umherirrens auf diesen verfluchten Mooren entschädigen.« Dann hob er die Klinge und machte, Mord in den Augen, einen Schritt nach vorn.
Davorshan war oben auf der Treppe in der günstigeren Position – das zu beachten hatte D’arvan von Maya gelernt. Während er seine Klinge mit einer Hand umklammerte, die plötzlich feucht und glitschig vor Schweiß geworden war, begann der Erdmagusch langsam rückwärts die Treppe herunter zu gehen, wobei er sich vorsichtig von einer Stufe zu anderen herabtastete, denn er wußte, wie töricht es gewesen wäre, den Blick auch nur für einen Augenblick von seinem Bruder abzuwenden. Davorshans Haß grub sich wie ein Feuerstrahl in sein Gehirn, wie der Zorn des Waldes, nur tiefer, enger, viel vertrauter. Sie waren so viele Jahre lang miteinander verbunden gewesen – wie gut sein Bruder ihn doch kannte. Unerbittlich fraß sich Davorshans Grausamkeit in sein Gehirn, weckte all die Ängste und Selbstzweifel, die dort lauerten, und wischte allen Mut und alles Vertrauen beiseite. »Halbblut!« schleuderte sein Bruder ihm entgegen. »Rückgratloser, feiger, machtloser Bastard! Hast du wirklich geglaubt, es würde funktionieren, D’arvan – einfach wegzulaufen, um dich hinter den Rockzipfel der Lady Eilin zu verstecken? Ach, und was haben wir denn hier?«
Sein gnadenlos suchender Wille grub eine Erinnerung aus – für D’arvan die kostbarste von
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