Die Artefakte der Macht 01 - Aurian
in ihrem Gehirn ein. Sie erinnerte sich an die Arena – erinnerte sich daran, wie sie Kraft von der Menge um sie herum in sich aufgesogen hatte. »Bohan«, flüsterte sie, »willst du mir helfen?«
Der Riese zögerte einen Augenblick lang, und in seinen Augen stand Furcht. Dann nickte er.
»Leg deine Hände auf meine«, wies Aurian ihn an. Er tat wie geheißen, und seine großen Hände umschlangen sowohl die Hände der Magusch als auch die Anvars. Aurian holte tief Luft. »Gut. Jetzt mußt du vollkommen still und entspannt sein. Leih mir deine Stärke, Bohan, um Anvars Leben zu retten.«
Aurian konzentrierte sich, wie sie es noch nie zuvor getan hatte, und versuchte mit aller Gewalt, die Barriere, die die Armbänder errichteten, zu überwinden. Dann kam es plötzlich. Wie ein Schleusentor, das sich öffnete, so floß Bohans Kraft in sie hinein und vergrößerte ihre eigene Kraft. Durch einen rötlichen Nebel sah sie die rostfarbenen Steine der Armreifen pulsieren und wie winzige Kohlenstückchen aufglühen, als sie sich an Aurians Magie übersättigten. Eine sengende Hitze fraß sich in ihre Handgelenke, aber sie schenkte ihr keine Beachtung. Mit plötzlichem Erschrecken begriff sie, daß die Armreifen Zauberkraft gelagert hatten – nicht nur ihre eigene, sondern auch die Kraft aller anderen Magusch, die sie jemals vor ihr getragen hatten. Wenn sie Zugang zu dieser Kraft finden konnte, und sei es auch nur für einen einzigen Augenblick, dann konnte sie selbst die Mauern des Todes durchbrechen. Aber wie sollte sie an diese Kraft herankommen – was war der Schlüssel dazu? Na komm schon, drängte Aurian sich selbst. Denk nach! Anvars Leben hängt davon ab. Sie spürte, wie ihre Gedanken sich ihm zuwandten und dann nach dem Wesenskern des Mannes griffen. Anvar. Diese stechenden blauen Augen, in denen sein Lächeln funkelte, sein seltenes Lächeln – die Art, wie es sein Gesicht verändert. Die Erinnerung an sein Lächeln schoß wie ein Pfeil durch ihr Herz, und ihr Herz krampfte sich in ihrer Brust zusammen …
Plötzlich raubte eine riesige, dunkel vermummte Gestalt Aurian die Sicht. Sie ragte hoch über ihr auf bis in den Himmel hinein, so schien es. »Aaaa«, sagte die Gestalt mit einer Stimme, so tief und trocken wie das raschelnde Wispern von Blättern auf einem mitternächtlichen Friedhof – wie Würmer, die sich bis in die tiefsten Tiefen ihrer Seele hineinfraßen. »Aaaa – du willst mich also wieder einmal betrügen?«
Aurian schluckte und nahm ihren ganzen Mut zusammen, um ihm zu antworten, um dem Tod selbst zu trotzen. Und von irgendwoher kam der Mut. »Wenn es denn so ist«, erwiderte sie. »Du hast schon genug genommen von mir und den meinen. Such deine Opfer anderswo!« Der Tod lachte, und es war wie die Klinge, die in Aurians Rückgrat gerammt wurde.
»Eine Närrin bist du, zu glauben, die Dinge seien so einfach. Und doch hast du in deiner Unwissenheit die einzige Münze geworfen, die es dir gestattet, mit mir zu handeln. Viele vor dir haben schon einen solchen Handel versucht, aber ich warne dich, mein Preis ist hoch – und ihr beide werdet ihn bezahlen, bevor wir uns wiedersehen!« Die Geistererscheinung ragte drohend vor ihr auf. Aurian biß sich auf die Lippen und stellte sich auf die Beine, um nicht vor der überwältigenden Gegenwart des Todes zurückzuschrecken.
»Du hast Mut, Lady.« Diesmal schwang ein Unterton von Respekt in seiner Stimme mit. »Und trotz meines weitverbreiteten schlechten Rufes glaube nie, der Tod sei gnadenlos. Weit gefehlt. Wenn deine Münze – die Münze, die ihr beide, du und dieser Mann besitzt – echt ist und keine Fälschung, dann mögt ihr immer noch das Beste aus unserem Handel herausschlagen. Erinnere dich daran, wenn es soweit ist, daß du meinen Preis bezahlen mußt!«
Die Gestalt verschwand in einem blendenden Aufblitzen roten Lichtes. Die plötzlich frei gewordene Kraft der Armreifen lief durch Aurian hindurch – durch Bohan, den sie zurückschleuderte, und dann durch Anvar. Aurian spürte, wie ihre Seele ausströmte, um der Seele ihres Begleiters zu begegnen – um sie sicher zu umfassen und ihn wieder heimzubringen.
Die Magusch blinzelte und war einen Augenblick verblüfft darüber, sich im Schmutz des Sklavenlagers wiederzufinden. Dann sah sie, daß ihre Handgelenke nackt waren. Die Armreifen waren zu einer feinen, pudrigen Asche zerfallen, die sich bereits vor ihren Augen zerstreute.
Anvar rührte sich unter ihren Händen, und seine
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