Die Artefakte der Macht 02 - Windharfe
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Der Gesetzlose kehrte, halb betäubt vor Müdigkeit, in die Höhle zurück und warf noch einen letzten Blick aus dem hoch oben im Felsen gelegenen Eingang ins Tal. Zu seiner Linken öffnete sich der Paß zu einem Berggrat, der zu einem weiten Tal abfiel. Jenseits des Tals erhoben sich die schneebedeckten Berge, ehrfurchtgebietend in ihrer einsamen Pracht. Dort im Norden, jenseits dieser zerklüfteten Barriere aus Stein, lag das Land der Xandim. Schiannath spuckte in den Schnee und wandte sich ab. Zu seiner Rechten erstreckte sich die dunkle Kehle des Passes – und noch während er sie betrachtete, drang das harte Geräusch von Stimmen zu ihm empor, die in der Sprache der Khazalim redeten und die vom Schnee umschlossene Stille durchbrachen. Er hatte es gerade noch rechtzeitig geschafft. Keuchend vor Anstrengung rollte der Gesetzlose den Stein vor den Eingang und sank dann völlig erschöpft auf die Knie.
Schiannath hatte sich vollkommen verausgabt, aber ihm blieb keine Zeit, um sich auszuruhen. In dem dämmrigen Licht, das an den Rändern des Felsens in die Höhle eindrang, tastete er sich mühsam seinen Weg in den hinteren Teil seines Verstecks. Es war gut ausgerüstet, alle seine Zufluchtsorte waren das. In den langen Monaten seiner Verbannung hatte Schiannath sich kaum mit etwas anderem als seinem Überleben beschäftigt. Die Berge waren mit Höhlen durchsetzt, und der Gesetzlose verfügte über eine Reihe verschiedener Verstecke, die vom Windschleier über die ganze Bergkette bis zum Turm reichten. Jedes dieser Verstecke war für Iscalda mit Heu und wilden Körnern ausgestattet, die er in einem lange vergangenen Sommer in den Tälern gesammelt hatte; Feuerholz, das er aus denselben Tälern hinaufgebracht hatte; Nüsse und getrocknete Beeren sowie geräuchertes Fleisch von wilden Bergschafen. Ihre weichen Felle sorgten für Wärme, zusammen mit den zotteligen Wolfspelzen von seinen Jagdausflügen.
Schiannath hatte während des Sommers und des Herbstes unermüdlich gearbeitet, um seine Zufluchtsorte auszustatten. Die Arbeit hatte ihm geholfen, seine Einsamkeit zu überwinden, und die Müdigkeit hatte seiner Verzweiflung die Spitze genommen. Jetzt, in diesem grausamen Winter, waren die Höhlen sein Schlüssel zum Überleben; aber erst heute hatte er den wahren Grund hinter seiner Beharrlichkeit in seiner scheinbar sinnlosen Arbeit gefunden. Es war der Wille der Göttin gewesen.
Der Gesetzlose konnte an nichts anderes denken, während er in dem Ring aus Steinen, der ihm hier als Kamin diente, Feuerholz aufstapelte und schließlich mit der Geschicklichkeit langer Übung ein Feuer entzündete. Er legte Heu für die Pferde auf den Boden und wandte sich dann dem bewußtlosen Krieger zu. Als er in das großknochige Khazalimgesicht blickte, ergriff ihn von neuem eine Woge des Staunens.
Die Göttin hat gesprochen. Sie hat mit mir gesprochen! Die Worte sangen in seinem Kopf, während Schiannath die Wunden des Fremden versorgte. Er streifte dem Mann die nassen Kleider vom Leib und hüllte ihn in trockene Schafsfelle; dann brach er das Ende des Armbrustpfeils ab und riß diesen schließlich ganz heraus. Aber als er die Wunde mit der glühenden Spitze seines Messers ausbrannte, schlug der Mann plötzlich die Augen auf und begann zu schreien. Der Gesetzlose legte ihm eine Hand über den Mund, und der Khazalim biß ihm vor Schmerz in die Finger, aber ungeachtet seines eigenen Schmerzes hielt Schiannath ihn fest, bis seine Schreie verklungen waren. Er bezweifelte, daß der Lärm außerhalb der Höhle zu hören war, aber er war doch erleichtert, als der Mann schließlich wieder bewußtlos wurde. Hastig ergriff er die Chance, seine Arbeit ungehindert fortsetzen zu können, und spülte die Wunde mit einem Gebräu aus heilenden Kräutern aus. Dann tat er dasselbe mit dem Schnitt, den der Krieger im Oberschenkel hatte. »Ein kleines Stück höher, mein Freund, und sie hätten dich kastriert«, murmelte er.
Als Schiannath die Wunden verband, kostete er den sauberen Duft der Kräuter aus, die den Übelkeit erregenden Gestank versengten Fleisches verscheuchten. Der Duft bescherte ihm jedoch auch eine Erinnerung an den Tag, an dem er aus dem Land der Xandim geflohen war. Mit nichts als seinen Waffen und den Kleidern auf seinem Rücken hatte er sich wie benommen an Iscaldas Hals geklammert, blutend und geschunden von den Steinen, die sie ihm nachgeworfen hatten. Als er auf dem Gipfel des Windschleiers an der Wegmarkierung
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