Die Artefakte der Macht 02 - Windharfe
vorbeigekommen war, die die Grenze seines Landes bezeichnete, hatte er plötzlich ein seltsames Schimmern in der Luft gesehen, und Chiamh, das verhaßte Windauge, war auf ihn zugetreten.
Iscalda, deren menschliche Erinnerungen noch immer unversehrt gewesen waren, hatte sich schreiend vor Zorn aufgebäumt. Schiannath hatte nach seinem Bogen gegriffen und einen Pfeil abgefeuert, aber dieser Pfeil ging mitten durch Chiamhs Körper hindurch und grub sich in den Schnee dahinter. »Ich bedauere meine Taten an diesem Tag aus ganzem Herzen«, flüsterte das Windauge mit beschämtem Gesicht. Dann zeichnete es einen Segen in die Luft und verschwand.
Obwohl der Seher nur eine Erscheinung gewesen war, war an dem Inhalt des Bündels, das Schiannath neben dem Stein gefunden hatte, nichts Übernatürliches gewesen. Kleider, Decken, Nahrung; und, was das beste von allem gewesen war, die Beutel mit Chiamhs heilenden Kräutern. Auf jedem dieser Beutel standen in den groben Xandim-Hieroglyphen Anweisungen. Einige der Kräuter waren gegen Fieber, andere gegen Infektionen oder zur Schmerzlinderung. Obwohl Schiannath es nicht vermochte, dem Windauge zu verzeihen, hatte er oft Grund gehabt, Chiamh für sein Geschenk dankbar zu sein.
Mit einem Ruck kehrte Schiannath in die Gegenwart zurück und legte dem Krieger ein in eisiges Wasser getauchtes Tuch auf die bläuliche Schwellung seiner Schläfe. Diese Verletzung mochte sich gefährlicher als die anderen Wunden erweisen, aber er konnte nichts tun, als seinen Patienten ruhigzuhalten und das Beste zu hoffen. Zum ersten Mal in seinem Leben war Schiannath zuversichtlich, daß seine Gebete erhört werden würden. War die Göttin nicht zu ihm gekommen in der tierischen Verkleidung eines schwarzen Geistes der Berge? Hatte sie ihn nicht auf die Probe gestellt? Und hatte sie nicht selbst zu ihm gesprochen und ihm befohlen, das Leben dieses Mannes zu retten, der eigentlich sein Feind war?
Plötzlich überkam Schiannath eine Woge religiöser Ehrfurcht. Vielleicht hatte es einen Grund für sein Exil gegeben und für das der armen Iscalda! O Göttin, hatte das alles womöglich doch einen Sinn?
Yazour öffnete seine verklebten Augen, nur um das Gesicht eines Feindes zu erblicken. Sein Magen krampfte sich vor Angst zusammen. Die Xandim haben mich gefangengenommen! Während er nach seinem Schwert tastete, versuchte er, sich zu erheben, und schrie vor Schmerz laut auf. Er hatte das Gefühl, als hätte ihm jemand eine flammende Fackel in die Schulter gerammt und noch eine in die Muskeln seines Oberschenkels. Der Pferderitter drückte ihn sanft und mit einem warnenden Kopfschütteln wieder auf sein Lager. »Nein. Nicht.«
Yazour erkannte die Worte; alle Krieger der Khazalim, die die Länder der Xandim überfielen, hatten die Grundlagen dieser Sprache gelernt. Er blinzelte in das flackernde Licht des Feuers, das die zerklüfteten Steine ein wenig erhellte – es war eindeutig das Dach einer Höhle. Eine Höhle, die nach Pferden stank. Wo bin ich? dachte er. Wer ist dieser Mann? Nach seiner Kleidung und seinen Waffen zu urteilen, war er eindeutig ein Xandim, und doch schien der Fremde sich von den anderen Mitgliedern seines Stammes zu unterscheiden, die Yazour früher zu Gesicht bekommen hatte. Seine Haut war hell unter der wettergegerbten Bräune, und er hatte wachsame, graue Augen mit Krähenfüßen in den Augenwinkeln; ein feines Gesicht mit hohen Wangenknochen und einer geschwungenen, spitzen Nase und eine von silbernen Fäden durchzogene Mähne schwarzer Locken.
Yazours Retter lächelte und hielt ihm eine randvoll mit Wasser gefüllte Schale entgegen. Der Khazalim hatte bereits herausgefunden, daß ihm die Stelle, an der der Pfeil seine Schulter durchbohrt hatte, höllisch weh tat, wenn er den Arm hob. Yazour nahm die Schale mit seiner gesunden Hand entgegen und trank gierig, während der Fremde seinen Kopf mit sanften Händen stützte. Das Wasser war höchst willkommen. Als er fertig war, legte der junge Krieger sich zurück in das Nest warmer Pelze, die man um ihn herumgewickelt hatte. Auch wenn es ihm nicht gefiel, er mußte der schrecklichen Schwäche, die seine Wunden verursachten, nachgeben. Er wollte dem Mann tausend Fragen stellen, aber bevor er noch die erste über die Lippen bekommen konnte, glitt er abermals zurück in die Bewußtlosigkeit.
Als er wieder erwachte, kitzelte ein köstlicher Duft ihm in der Nase. Yazour lief das Wasser im Mund zusammen. Der Fremde mußte ihn beobachtet
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