Die Artefakte der Macht 02 - Windharfe
stehen. Wenn ich doch nur Aurian finden könnte …
Das Pferd trabte unermüdlich weiter. Parric, ein Reitersmann durch und durch, fand einen gewissen Trost in dem anmutigen Schritt des Tiers. Kraftvolle Muskeln bewegten sich mit fließender Leichtigkeit unter ihm, und er rieb seine Wange über dickes, aber seidiges Fell. Er verspürte ein heftiges Verlangen, das Tier zu sehen, seine Hände über glatte Flanken und kraftvolle Schenkel gleiten zu lassen. Oh, dieses Geschöpf zu reiten – solch ungeheure Stärke zu teilen! Wirklich, dieses Pferd konnte selbst dem Wind davonlaufen! Eingelullt von den gleichmäßigen Schritten seines Reittiers und getröstet von dem warmen, scharfen Geruch des Pferdes, döste er vor sich hin und träumte davon, den Wind zu reiten.
Parric war mit einem Ruck wach, als die Eule, die ihn geweckt hatte, einen zweiten markerschütternden Schrei ausstieß. Nur wer wie er seiner Sicht beraubt war, konnte das leise, raschelnde Wispern der Flügel hören, als die Eule wie ein Geist davonflog. Es mußte immer noch Nacht sein – es war schwarz hinter seiner Augenbinde, und er konnte eine kühle, feuchte Brise auf seiner Haut spüren. Der unbarmherzige Regen hatte zu seiner großen Erleichterung endlich aufgehört. Er konzentrierte sich und benutzte seine durch viele Jahre als Kundschafter geschärften Sinne, um herauszufinden, was seine Augen ihm nicht sagen konnten. Ah, das Gelände hatte sich verändert. Anstelle des berauschenden, frischen Dufts des Graslands war der schwere Moschus des Waldbodens getreten, und er konnte das raschelnde Murmeln des Windes in den Zweigen hören. Der Körper seines Pferdes war schräg nach oben geneigt, und er konnte spüren, wie die Muskeln des Tieres sich anspannten, als es sich einen steilen, unebenen Pfad hinaufarbeitete.
Der sanfte Tritt der Pferdehufe auf weichem Grund war einem hohlen Scharren auf einer steinernen Oberfläche gewichen. Ein Flüstern lief durch die Reihen der Krieger, die Parric gefangenhielten, und das Tier blieb stehen. Grußworte erklangen und ein Geplapper von Antworten in der singenden Sprache der Xandim. Parric mußte die Sprache nicht kennen, um Neugier und Betroffenheit aus ihrem Ton herauszuhören. Gedämpftes Fackellicht zuckte über seine Augenbinde, hier und da unterbrochen von vorüberziehenden Schatten. Dann setzte sein Pferd sich mit einem gereizten Schnauben wieder in Bewegung, und sie nahmen ihren mühsamen Weg über den gepflasterten Pfad wieder auf. Der Kavalleriemeister versuchte, seine Gedanken zu sammeln, denn er rechnete damit, bald dem Anführer der Pferderitter gegenüberzustehen. Wo auch immer man ihn und seine Begleiter hingebracht hatte, sie waren offensichtlich an ihrem Ziel angekommen.
2
Das Windauge
Der Wind trug Stimmen zu ihm herüber, die über die Hänge des Windschleierbergs pfiffen und ihre Geheimnisse über die steifen, vom Frost zersplissenen Gräser des Plateaus wisperten, das lang und breit und von wilder Schönheit war: das Herz und die Heimat der Xandim. Diese Wiese war in früheren Sommern üppig und grün gewesen und mit Mohn und Siebenstern bestanden, aber der Sommer schien für immer aus ihren Landen geflohen zu sein. Mitten durch die Ebene sprudelte ein ungestümer Strom, der aus einem dunklen, schmalen Tal im Schatten des Bergmassivs kam. In diesem unheimlichen Tal lagen die Hügelgräber, in denen die Xandim ihre Toten beisetzten. Nur um einen der Ihren zu beerdigen, zogen die Pferderitter über den von hohen Steinen gesäumten Weg, der den Eingang zum Tal bewachte, und nur die Windaugen kannten das geheime Herz des Tales: die dem Berg abgerungene, gewundene Steinzinne, die wie ein Turm am Ende des Tals emporragte.
Die Spitze dieses Turms war irgendwann in lang vergangener Zeit ausgehöhlt worden, um einen Horst zu bilden, offen für die Elemente, mit Wänden aus Luft und einem Steindach, das auf vier schlanken Säulen ruhte. Diese Kammer der Winde war nur über eine viel zu schmale Treppe aus langsam verwitternden Stufen zu erreichen, die in die steinerne Oberfläche des Berges hineingehauen und durch eine Hängebrücke aus geflochtenem Seil mit dem Turm verbunden war. Nur ein Windauge konnte den riskanten Aufstieg bewältigen und den gefährlichen Weg über die Brücke wagen. Nur ein Windauge würde eine Notwendigkeit dazu sehen.
Der schneidende Wind zerstob das dunstige Gewebe von Chiamhs Schattenmantel und wirbelte ihm Graupelschauer ins Gesicht, während er
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