Die Artefakte der Macht 02 - Windharfe
»Hagorn! Was ist ihm zugestoßen? Wird er wieder gesund werden?«
In diesem Augenblick hörten sie vom Tor her das Donnern heftiger Schläge. Brennende Pfeile zischten über ihre Köpfe wie ein Sternschnuppenhagel; einige fielen immer noch brennend auf den Boden innerhalb der Palisade, andere bohrten sich in das hölzerne Fachwerk verschiedener Gebäude oder blieben zwischen den Dachziegeln stecken und setzten die darunterliegenden Balken in Brand. Das Lagerhaus füllte sich mit Rauch. Ein hölzerner Schuppen mit Viehfutter ging in Flammen auf, und Menschen rannten schreiend durcheinander. Wie die Soldaten geplant hatten, war es nur eine Frage der Zeit, daß jemand in Panik geriet und das Tor öffnete.
Emmy taumelte würgend durch den immer dichter werdenden Rauch und ließ sich von dem Hund führen. Angesichts der drohenden Gefahr würde das Tier zu seinen Jungen zurückkehren, und wo die kleinen Hunde waren, würde sie hoffentlich auch Tilda und Grince finden. Es war ihre einzige Chance, sie jetzt überhaupt noch zu finden. Während sie sich blind und mit brennenden, tränenden Augen ihren Weg bahnte, wurde Emmy immer wieder von in Panik geratenen Menschen, die zum Ausgang rannten, beiseite gestoßen. Ohne die beruhigende, machtvolle Gegenwart des Hundes an ihrer Seite hätte man sie schon nach wenigen Sekunden umgerannt. Die Panik war ansteckend. Während sie sich weiter in den hinteren Teil des Lagerhauses vorkämpfte, spürte Emmy würgende Fangarme der Furcht, die sich um ihr hämmerndes Herz legten und ihr die Kehle zuschnürten.
»Emmy? Bist du das?« Tilda schien wie aus dem Nichts vor Emmy aufzutauchen, und die Angst hatte ihr Gesicht mit den weit aufgerissenen Augen beinahe bis zur Unkenntlichkeit verzerrt. »Ist Grince bei dir?«
»Ich dachte, er wäre bei dir!« Emmy hatte alle Mühe, die Hände der hysterischen Frau, die ihren Arm umklammerten, von ihrem Heisch zu lösen.
»Nein – ich habe ihn zu dir geschickt. Dann brach plötzlich dieser Tumult aus, und das Feuer …«
Emmy fluchte mit so unbeherrschter Wildheit, daß Tilda sie nur schockiert anstarren konnte. »In welche Richtung ist er gegangen?«
»Weiß ich nicht. Ich habe ihn aus den Augen verloren …«
Ihre Worte gingen in einem grauenerregenden Heulen des Hundes unter. Emmys Herz zog sich zusammen. Neben den am Boden verstreuten Kohlen aus dem Feuer stand die weiße Hündin über einer zerfetzten Masse aus Blut und Pelz und wimmerte mitleiderregend – die niedergetrampelten Überreste ihrer Jungen.
»Ich konnte sie nicht aufhalten«, jammerte Tilda. »Eine ganze Horde ist hier durchgerannt. Es gab nichts, was ich hätte tun können.«
»Du blöde Ziege!« Emmy schlug so fest zu, daß Tilda taumelte. »Kannst du denn überhaupt nichts richtig machen?«
Während sie sich schon dafür haßte, daß sie ihren eigenen Zorn und ihre Angst an der Straßendirne ausgelassen hatte, bückte Emmy sich und legte ihre Arme um den Hals des wimmernden Hundes, der mit bemitleidenswerter Verwirrung die schlaffen, kleinen Leiber anstupste. »Komm«, sagte sie leise. »Das hat jetzt keinen Sinn mehr.« Der Kummer des Tieres zerriß sie fast. Dann jedoch wischte sie sich die Tränen aus den Augen, zog den Hund weg, und nach kurzem Zögern trennte das Tier sich von seinem toten Wurf und folgte ihr voller Vertrauen.
»Laß uns gehen.« Emmy faßte Tilda am Arm und zog die Frau hinter sich her. »Wir müssen Grince finden.«
Sie fanden den Jungen bei Jarvas in der Nähe der Lagerhaustür. »Schnell!« sagte der große Mann. »Die anderen sind schon vorgegangen. Haltet euch ganz dicht hinter mir.« Noch bevor sie den Hof hinter sich gelassen hatten, flogen die Tore auf, und die Soldaten strömten wie eine gewaltige, unbarmherzige Woge herein. Jarvas’ Flüche übertönten selbst die Schreie der vielen verängstigten Menschen. Er blieb stehen und drehte sich halb um, als wolle er zurückgehen.
Emmy, die weiterlief, zog an seinem Arm. »Jarvas, nein! Es gibt nichts, was du jetzt noch für sie tun könntest.«
Benziorn und Remana warteten im Eingang des höhlenartigen Gebäudes, das einst eine Walkmühle gewesen war. »Beeilt euch!« dränge Remana sie. »Yanis und Tarnal sind schon mit Hagorn vorgegangen.«
Dann stellte Grince zu Emmys Entsetzen fest, daß seine geliebten Tierchen verschwunden waren. »Meine Hunde!« heulte der Junge. »Wir können sie nicht allein lassen.« Mit diesen Worten riß er sich von Tildas Hand los und verschwand in der
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