Die Artefakte der Macht 02 - Windharfe
über den Vorsprung. »Wir kriegen bestimmt Ärger deswegen«, sagte er warnend.
»Ach, hör doch auf zu jammern!« fuhr Linnet ihn an, »sonst spiele ich nicht mehr mit dir.« Ohne sich umzudrehen, um die Wirkung ihrer Drohung zu überprüfen, schwang sie sich von dem Türmchen hinab und schwebte der dahinterliegenden, verführerischen Kette von Dächern entgegen. Er sollte ihr besser folgen, dachte sie, machte sich jedoch keine Sorgen deshalb. Manchmal hatte sie das Gefühl, als sei das verflixte Gör ihr in den letzten sechs Jahren immer gefolgt – seit dem Augenblick seiner Geburt.
Auf dem ersten Turm, den das geflügelte Kind erreichte, suchte es sich eine bequeme Nische, in der es sich verstecken konnte. Es dauerte nicht lange, da fand Linnet im Schatten eines Strebepfeilers einen Alkoven, in den sie hineinschlüpfte – und mit einem erschrockenen Kreischen zurückprallte, als ihr aus der Finsternis ein gräßliches, verzerrtes Gesicht entgegengrinste. Nachdem sie mit verzweifelten Flügelschlägen ihren Absturz gerade noch verhindert hatte, warf sie dem schauerlichen, aber harmlosen Dämonengesicht, das sie so erschreckt hatte, einen finsteren Blick zu. »Vater der Himmel!« fluchte sie.
»Ich werd’s Mama sagen, daß du schon wieder geflucht hast.« Larks Stimme klang frech und spöttisch.
Linnet drehte sich um, um der kleinen Nervensäge, die ihr also doch gefolgt war, einen drohenden Blick zuzuwerfen. »Und ich werde ihr sagen, was du getan hast, als du mich fluchen hörtest«, gab sie zurück und konnte ein selbstgefälliges Grinsen nicht verbergen, als sie sah, wie sein Gesicht sich weinerlich verzog.
»Ich hasse dich«, schniefte Lark, »und ich fliege jetzt nach Hause. Und ich werde Mama alles sagen, paß nur auf …« Seine Stimme wurde leiser, und er flatterte davon.
»Heulsuse!« schrie Linnet hinter ihm her. Seine Drohung hatte sie nicht weiter beeindruckt. Er wußte, was ihm blühte, wenn er sie verpetzte. In der Zwischenzeit würde sie erst einmal die Gegend erkunden. Achselzuckend vergaß Linnet ihren Bruder und stürzte sich in den mysteriösen Wald aus Türmen.
Das Auskundschaften machte, wie sie sich einige Zeit später eingestehen mußte, nur halb soviel Spaß ohne ihren kleinen Bruder, vor dem sie sonst so gerne angab. Linnet war müde, staubig und schrecklich hungrig, und ihre Nerven flatterten von den ängstlichen Blicken, mit denen sie nach versteckten Wachen Ausschau hielt. Schließlich fand sie einen Felsvorsprung, auf dem sie landen konnte, und sah sich dann noch ein letztes Mal um, denn es widerstrebte ihr, zugeben zu müssen, daß das Abenteuer doch nicht so aufregend war, wie sie erwartet hatte. »Es muß schon fast Zeit zum Abendessen sein«, tröstete sie sich, »und außerdem kann ich ja ein andermal wiederkommen.« Linnet war gar nicht bewußt, daß sie laut gesprochen hatte, bis sie eine Stimme von dem Fenster über ihrem Kopf hörte.
»Wer ist da draußen? Yinze auf einem Baumgipfel! Es ist ein Kind!« Ein langer Arm schoß zwischen den Gitterstäben vor dem Fenster heraus, und Linnet, die gerade hatte fliehen wollen, mußte feststellen, daß sie an ihrem Rock festgehalten wurde.
»Es tut mir leid«, wimmerte sie, während ihre Gedanken sich bei der Suche nach einer Entschuldigung geradezu überschlugen. »Ich wollte das nicht!«
»Es ist schon gut«, sagte die Stimme beschwichtigend. »Hör auf zu jammern, Kind, ich tu dir nichts. Ja, um genau zu sein, ich bin sogar sehr froh, dich zu sehen?«
»Wirklich?« Linnet reckte ihren Hals, um festzustellen, wer sie da festhielt. Zu ihrem Erstaunen lächelte der Mann auf sie herab. Er hatte ein nettes Gesicht, dachte sie, und dieses feine, weiße Haar, das ihm in die Stirn fiel, war viel hübscher als ihre eigenen braunen Locken.
»Hör mir zu«, sagte er zu ihr. »Ich habe hier ein paar Früchte. Wenn du mir einen Gefallen tust, kannst du sie alle haben – und ich werde niemandem verraten, daß du hiergewesen bist.«
Linnet lief bei dem Gedanken an Früchte das Wasser im Mund zusammen. Seit dieser schreckliche Winter begonnen hatte, hatte sie kein Obst mehr zu essen bekommen. »Na schön«, erwiderte sie schnell. »Was muß ich tun?«
»Könntest du deinem Vater eine Nachricht von mir bringen?«
»Nein, kann ich nicht.« Die Lippen des Kindes begannen zu zittern. »Ich habe keinen Vater mehr. Der Hohepriester hat ihn geopfert.«
»Das tut mir leid«, sagte der junge Mann hastig. »Wirst du dann deiner Mutter
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