Die Artefakte der Macht 02 - Windharfe
etwas von mir ausrichten?«
Linnet zog ein langes Gesicht. »Ich werde furchtbaren Ärger kriegen, wenn sie herausfindet, wo ich gewesen bin.«
»Das wirst du bestimmt nicht – im Gegenteil, die Leute werden sagen, du bist eine Heldin. Hör zu, Kind, die Königin ist hier bei mir, eingesperrt in diesem Zimmer.«
»Sei nicht dumm«, schnaubte Linnet. »Königin Flammenschwinge ist tot.« Sie war zwar nur ein kleines Mädchen, aber das wußte sogar sie!
Der Mann schüttelte den Kopf. »Nicht Königin Flammenschwinge – Königin Rabe, ihre Tochter. Der Hohepriester hat sie gefangengenommen, und sie befindet sich in schrecklicher Gefahr, aber wenn ihr Volk entdeckt, daß sie hier ist, wird ihr vielleicht jemand helfen.« Er schenkte der Kleinen ein gewinnendes Lächeln. »Und dann wärest du eine Heldin, und die Königin würde dir eine Belohnung geben.«
»Was für eine Art Belohnung?« erkundigte Linnet sich zweifelnd.
»Alles, was du willst.«
»Alles?« Sie war sich nicht sicher, ob sie ihm glauben sollte, aber schließlich versprach er es ihr so oft, daß sie sich überreden ließ. Der geflügelte Mann reichte ihr durchs Fenster hindurch das versprochene Obst, eingewickelt in ein Stück Stoff, in dem sich außerdem ein Zettel für ihre Mutter befand. Dann machte sie sich, während seine Mahnungen, vorsichtig zu sein und sich zu beeilen, ihr noch in den Ohren klangen, mit höchst zwiespältigen Gefühlen auf den Heimweg. Vielleicht sollte sie das Obst einfach aufessen, dachte Linnet, und den Zettel irgendwo in eine Schlucht werfen – denn eines stand auf jeden Fall fest: Trotz aller Versprechungen des Mannes würde ihre Mutter sie ganz bestimmt bestrafen, wenn sie herausfand, wo ihre Tochter gewesen war.
Anvar stand im hinteren Teil der Höhle, atmete tief durch und setzte alles daran, daß seine Hände endlich aufhörten zu zittern. Er hielt den Erdenstab so fest, daß seine Knöchel weiß durch das Fleisch hindurchschimmerten. »Bist du fertig?« fragte er Shia. Einen kurzen Augenblick lang dachte er an die letzte Gelegenheit, bei der er diese Worte zu ihr gesagt hatte: damals im Wald, als sie Harihns Pferde stahlen.
»Um der Göttin willen, fang endlich an!« Die scharfe Antwort der Katze verriet ihre Nervosität. Sie kauerte zusammen mit Khanu in der Nähe des Höhleneingangs im Schatten des vorspringenden Felsbrockens, hinter dem’ der Magusch seine Feuerstelle eingerichtet hatte.
»Geht in Deckung!« Anvar hob den Stab. Er spürte, wie seine Macht, dem Schlagen eines anderen Herzens gleich, durch ihn hindurchpulsierte, während er sich darauf vorbereitete, sich den Weg in das Herz des Berges zu erzwingen. Aufregung und Jubel mischten sich in seinem Blut. Endlich! Eine Chance zu entkommen – falls sein Plan funktionierte. Der Magusch schluckte schwer, straffte die Schultern und schob alle Gedanken an ein mögliches Scheitern beiseite. Was konnte ihn schon aufhalten, wenn er den Stab der Erde in Händen hielt?
Anvar zog seinen Arm zurück und konzentrierte seinen ganzen Willen darauf, die verschlungenen Kräfte des Stabes freizulassen, aber im letzten Augenblick ließ ihn irgend etwas zögern. Ein Schaudern durchlief ihn, als er plötzlich an die Lawine denken mußte, die er verursacht hatte, weil er die Macht, die ihm zur Verfügung stand, nicht richtig begriffen hatte. Nur um Haaresbreite war er, als er in diese Schlucht hinunterstürzte, dem Tod entgangen. Wenn er nun auf dieselbe gedankenlose Weise versuchte, sich mit Hilfe des Stabes seinen Weg zum Tempel zu erkämpfen … Der Magusch erzitterte. Wie leicht konnte durch seine Schuld der Berg über ihnen zusammenstürzen? Aber welche Wahl hatte er schon?
»Feigling!« beschimpfte Anvar sich und hob noch einmal den Arm. Seine Hand, die den Stab umklammerte, begann zu zittern. Dann hatte er plötzlich ein lebhaftes Bild von Aurian vor Augen, stirnrunzelnd und besorgt, wie sie am Tag der Lawine ausgesehen hatte. Sie hatte ihn damals gebeten, vorsichtig zu sein, aber er hatte ihre Warnungen in den Wind geschlagen. Langsam ließ Anvar den Arm sinken. Diesmal mußte er es besser machen. Tot würde er ihr nichts mehr nützen können. Also runzelte er die Stirn und dachte angestrengt nach. Was würde Aurian jetzt tun?
Nun, zunächst einmal würde sie mehr über die Kräfte, mit denen sie es zu tun hatte, herausfinden. Da erinnerte der Magusch sich an das wenige, das sie ihm über das Heilen beigebracht hatte. Also drängte Anvar sein Bewußtsein
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