Die Artefakte der Macht 02 - Windharfe
sprang von dem Rudelfürsten herunter und trat neben sie. Iscalda ging mit einem überraschten Schnauben einen Schritt zurück. Dieser drahtige, kleine Mann war kein Xandim! Warum hatte Phalias sich bereitgefunden, eine solche Kreatur auf dem Rücken zu tragen? Der Fremde streichelte sie unablässig weiter, und die Stute stand zitternd da, während sie mit zuckenden Ohren der rauhen Stimme lauschte, die in einer fremden Sprache sanft auf sie einsprach. Sie rollte mit den Augen und versuchte, zu dem Rudelfürsten hinüberzuspähen. Außerdem fragte sie sich mit einem kurzen Aufblitzen von Zorn, warum Phalias sich nicht in Menschengestalt zurückverwandelte.
»Weil er es nicht kann. Er unterliegt demselben Zauber wie du.«
Iscalda stieß ein wütendes Wiehern aus, als sie das Windauge erblickte. Als sie dann auch noch mit den Vorderhufen ausschlug, sprang der Fremdländer, der Phalias geritten hatte, ängstlich zur Seite. Iscalda riß ihm das Seil aus den Händen und sprang mit gebleckten Zähnen und flammenden Augen auf Chiamh zu. Das Windauge wich keinen Schritt zur Seite. Statt dessen hielt er eine Hand hoch und begann die Worte eines Zaubers zu sprechen …
Und Iscalda landete, alle viere von sich gestreckt, mit dem Gesicht nach unten im Schnee, als ihre vier Beine sich plötzlich in zwei verwandelten. Wie betäubt versuchte sie, sich auf die Knie zu erheben, und blickte hinab auf ihre Hände – zwei menschliche Hände – und brach in Freudentränen aus. Als sie wieder den Kopf hob, sah sie vor sich eine Hand, ausgestreckt, um ihr zu helfen. Chiamh blickte auf sie herab, und in seinem Gesicht standen sowohl die Bitte um Verzeihung als auch Mitleid. »Phalias ist nicht mehr Rudelfürst«, sagte er sanft. »Ich habe so lange auf diesen Tag gewartet. Du hast auf meinem Gewissen gelastet, seit ihr verbannt wurdet. Willkommen daheim bei Xandim, Iscalda.«
Iscalda ignorierte die ausgestreckte Hand und sah ihn kalt an. »Und Schiannath?« wollte sie wissen.
Das Windauge nickte. »Auch Schiannaths Verbannung ist aufgehoben.« Dann wurden seine kurzsichtigen Augen plötzlich schmal, und er sah sich suchend um. »Wo ist er?«
»Beim Lichte der Göttin!« Iscalda erhob sich unsicher auf die Füße. »Ich habe ihn im Turm gelassen, bei dieser Frau.«
»Einer Frau?« Chiamhs Blick wurde plötzlich aufmerksam. »Eine Gefangene?«
Iscalda nickte. »Woher wußtest du das?«
Aber das Windauge hatte sich bereits von ihr abgewandt. »Parric!« schrie er. »Ich glaube, wir haben sie gefunden.«
Schiannath, nun ebenfalls in Pferdegestalt, traf auf dem Hügel auf die Armee der Xandim. Er hatte seinen zweiten geflügelten Angreifer oben auf dem Turm schließlich besiegt, nur um mit einem Blick nach unten festzustellen, daß die Wölfe über Harihns hilflose Wachen hergefallen waren und ein wahres Blutbad angerichtet hatten. Dann sah er die weiße Gestalt Iscaldas, die in die Wälder floh. Fluchtend war er den Turm wieder hinuntergeklettert und hatte Aurian und Yazour vergessen – hatte alles vergessen, bis auf seine Angst um seine geliebte Schwester. Sobald er erst in sicherer Entfernung von den Soldaten und Wölfen gewesen war, hatte er die Pferdegestalt angenommen und war hinter ihr hergaloppiert. Die Spuren im Schnee zwischen dem Hügel und dem Paß wiesen ihm den Weg.
Als er oben auf dem Hügel angekommen war, blieb Schiannath stehen und starrte verwundert auf die Schar von Pferden und Reitern, die sich aus dem Tal näherte. Während er noch zögerte, weil er nicht wußte, ob er bleiben oder weglaufen sollte, hörte er eine klare Stimme seinen Namen rufen; eine geliebte Stimme, von der er geglaubt hatte, er würde sie nie wieder hören. »Iscalda!« rief er und vergaß in seiner Freude ganz, daß er immer noch seine Pferdegestalt trug. Das Wort kam als langgestrecktes, hohes Wiehern über seine Lippen, und Schiannath verwandelte sich schnell wieder in Menschengestalt, während seine Schwester den Hügel hinauf auf ihn zugelaufen kam.
Es war zuviel, um es alles auf einmal zu begreifen. Schiannath, der nicht länger ein Gesetzloser war, blickte ungläubig von einem Gesicht zum anderen, während das Windauge begann, ihm von den Veränderungen zu erzählen, die die Xandim seit seiner Verbannung erlebt hatten. Iscalda, die sich eng an ihn schmiegte, konnte ein breites Grinsen angesichts der Verwunderung ihres Bruders nicht unterdrücken.
Plötzlich bahnte sich ein fast kahler, o-beiniger kleiner Mann seinen Weg durch
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