Die Artefakte der Macht 02 - Windharfe
– Anvar zögerte und wußte einen Augenblick lang nicht weiter. Hinter sich hörte er noch die beruhigende Stimme Hellorins. »Mach drei Schritte nach vorn, Anvar, und blick nicht zurück! Du wirst entdecken, daß der Weg sich vor deinen Augen bilden wird.«
Anvar schauderte bei dem Gedanken, hinauszutreten in dieses formlose Nichts, aber … Der Waldfürst mußte schließlich wissen, was er tat. Er hatte diesen Pfad in dem Ort Zwischen den Welten‹ geöffnet, wobei er das Gewebe der Wirklichkeit mit ausgestreckter Hand durchtrennt hatte, um diesen unheimlichen Eingang zu schaffen.
»Fasse Mut, junger Magusch. Dieser Weg ist sicherer als der, den du mit der Moldan gegangen bist – was zugegebenermaßen nicht viel heißen will.« Der etwas klägliche Humor in den Worten des Waldfürsten gab Anvar neuen Mut. Außerdem, so rief der Magusch sich in Erinnerung, war dies seine einzige Möglichkeit, in seine eigenen Welt zurückzukehren – und zu Aurian. Er hatte sich bereits von Eilin und Hellorin verabschiedet, so daß es keinen Grund mehr gab zu zögern. Anvar schluckte und trat hinaus in die grauen Nebel. Das Glitzern des warmen Lichtes in den Gemächern des Waldfürsten war wie ausgelöscht, als die Pforte Zwischen den Welten sich hinter ihm schloß und jede Hoffnung auf Rückkehr zerstörte.
Irgendwie faßte Anvar dann jedoch neuen Mut und brachte seine rasenden Gedanken unter Kontrolle. Drei Schritte hatte der Waldfürst gesagt? Nun, so sei es. Der Boden, wenn man es überhaupt Boden nennen konnte – es war gewiß keine Erde –, war weich und federte unter seinen Füßen. Anvar machte seinen ersten Schritt, dann den zweiten …
Beim dritten Schritt verschwand der graue Nebel. Der ungewisse Boden unter seinen Füßen nahm die beruhigende Festigkeit von Stein an. Anvar hob überrascht eine Hand an sein Gesicht und sah seine Finger, wie er sie schon einmal gesehen hatte, umkränzt von einem geisterhaften, blauen Schimmer Maguschlicht, als hätte seine Magie eine eigene, körperliche Gestalt angenommen, um sein irdisches Fleisch zu umhüllen. Eine flüchtige Erinnerung schoß ihm durch den Sinn – die Vision einer geschnitzten, grauen Tür – und war dann wieder verschwunden. Grimmig konzentrierte sich Anvar auf die Aufgabe, die vor ihm lag, und hob seine leuchtende Hand, um seine Umgebung zu erhellen.
Er befand sich in einem Tunnel: in einem schmalen Korridor, der grob aus einem glitzernden, schwarzen Gestein gehauen war. Zu seinem Erstaunen waren seine Wände von Anfang bis Ende, etwa in Augenhöhe, mit seltsamen, nicht zu entziffernden Runen und eckigen Bildern bedeckt. Anvar, der sich langsam durch den Tunnel fortbewegte, stöhnte. Dort, deutlich sichtbar in dem Funkeln seines Maguschlichtes, war die ganze Geschichte der Verheerung niedergeschrieben!
Staunend folgte der Magusch der Geschichte bis an ihr Ende, wo Avithan, einst der Sohn des Ersten Zauberers, heute Vater der Götter genannt, seine Gefolgsleute, die sechs überlebenden Zauberer, zu der Zuflucht Zwischen den Welten geführt hatte, zu dem Zeitlosen See. Und im letzten Bild …
Diese Zeichnung unterschied sich in ihrem Stil von allen anderen. Sie zeigte ein Gesicht, ein weibliches Gesicht, umgeben von einer leuchtenden Mähne, die so raffiniert geschnitzt war, daß sie Anvars Maguschlicht auffing und ein frostiges Glitzern zurückwarf. Das Gesicht, raubvogelartig und mit hohen Wangenknochen, erinnerte den Magusch an Aurian, aber es war irgendwie älter und anders, auf eine Weise, die er nicht einordnen konnte. Die großen, wilden, runden Augen waren nicht die Augen eines Menschen, sondern die eines Adlers. Sie schienen Anvars Blick zu halten, ein Blick, der sich tief in seinen Geist hineinbohrte und seine innersten Gedanken enthüllte …
Der Magusch hatte keine Ahnung, wie lange er dort gestanden hatte, wie gebannt und vollkommen verzaubert. Endlich blickte er auf, um vor sich ein anderes Licht zu sehen, eingerahmt von einem gähnenden Maul schwärzesten Steins, vor einem Himmel von tiefstem Indigoblau, besprenkelt mit hellen Sternen. Mit einem Seufzer der Erleichterung wandte Anvar sich von der beunruhigenden Schnitzerei ab und hastete weiter.
Eine weitere Erinnerung, kurz und flüchtig, flackerte durch Anvars Gedanken. Die schwarzen, gewölbten Hügel, die vor einem mit Sternen übersäten Himmel dicht an dicht aneinanderstanden … Aber diesmal waren es Berge, ein friedliches Tal, das zu beiden Seiten mit duftenden Kiefern und Farnen
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