Die Artefakte der Macht 02 - Windharfe
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»Wer bist du?« rief Chiamh und zog damit die neugierigen Blick der anderen Leute in den Korridoren auf sich. Er bekam keine Antwort, aber er hatte auch bereits gelernt, keine zu erwarten. »Ich werde dieser Sache auf den Grund gehen«, murmelte er, »komme, was da wolle.« Aber das war kaum der geeignete Zeitpunkt, seiner Neugier nachzugeben. Zuerst einmal hatte er etwas Wichtigeres zu erledigen: Er mußte die Gefangenen finden.
Chiamh sah sich in der Eingangshalle der Festung um und erbebte. Wie sehr er diesen Ort doch haßte! Sein Körper war feucht von klebrigem Angstschweiß. Wie immer war er sich der gewaltigen Steinmasse, die ihn hier umgab, bewußt und fühlte sich erdrückt und klein. Verloren und unsicher und halb blind tastete er sich weiter, denn ohne die Winde in diesem luftleeren Steingrab war Chiamh gezwungen, sich auf seine elend schlechten Augen zu verlassen.
In glücklicheren Zeiten waren die von Fackeln erleuchteten Korridore der Festung beinahe vollkommen verlassen. Nicht einmal der Rudelfürst verbrachte viel Zeit hier, und die meisten der Xandim gingen von ihrer Geburt bis zu ihrem Tod durchs Leben, ohne jemals einen Fuß in dieses Gebäude zu setzen. Es wurde von Kriegern bewacht, die sich mit ihrer Wache abwechselten, denn niemand wollte für längere Zeit hier festsitzen. Jetzt jedoch hatte der finstere Winter, der das Land in seinen Klauen hielt, diesen Ort bis zur Unkenntlichkeit verändert, denn die Xandim hatten die Schwächsten ihres Volkes hierhergebracht – die Jungen, die Kranken und die Alten –, damit sie in diesen massiven, schützenden Wänden Zuflucht suchen konnten.
Überall spielten Kinder, und ihr Lärm war in dem beengten Raum beinahe ohrenbetäubend; sie spielten in den Korridoren und jagten wie kreischende Wurfgeschosse an Chiamh vorbei. Alte Leute männlichen wie weiblichen Geschlechts, die Taschen und Bündel mitgebracht hatten und die Durchgänge so in ein Labyrinth aus unzähligen Hindernissen verwandelten, erhoben protestierend ihre Stimmen gegen die Jugend, was nicht gerade dazu beitrug, den Lärm zu verringern.
Die Neuigkeit, daß Fremde im Land der Xandim gefangengenommen worden waren, hatte sich wie ein Lauffeuer ausgebreitet und größte Neugier geweckt. Zusätzlich zu denen, die in der Feste Schutz gesucht hatten, kamen nun auch noch viele andere her, um nach Möglichkeit einen Blick auf die Fremden zu erhaschen und die Verhandlung mitzuerleben, die am folgenden Vormittag stattfinden würde. Durch einige Gesprächsfetzen, die er aufgeschnappt hatte, fand Chiamh heraus, daß die Fremden bereits hierhergebracht und in die Kerker gesperrt worden waren, wo sie dem Gericht des Rudelführers entgegensahen.
Als Chiamh endlich nach einer Reihe von Irrwegen seine Gemächer erreichte, verspürte er eine gewaltige Erleichterung. Er trat in sein Zimmer und rümpfte die Nase angesichts des modrigen Geruchs, der dort herrschte. Seit seinem letzten Besuch vor einigen Monaten hatte man seine Räume offensichtlich nicht saubergemacht. Seine Füße hinterließen eine deutliche Spur in dem Staub, der den Boden bedeckte, und das Windauge nieste. Chiamh seufzte. So etwas wäre seiner Großmutter nie passiert. Ihre Gemächer hatten sich im äußeren Teil des Bergfrieds befunden, dort, wo es Fenster gab, um die süßen Brisen des Windes und das aufmunternde Licht des Tages einzulassen. Er, Chiamh, dagegen war gezwungen, sich mit diesem düsteren Rattenloch tief in den Eingeweiden der Felsen zufrieden zu geben, aber wenigstens lagen seine Räume in bequemer Nähe zu den Kerkern – und gerade jetzt war das genau das, was er brauchte. Sobald er Kontakt zu den Gefangenen aufgenommen hatte, konnte er vielleicht herausfinden, in welcher Verbindung sie zu den hellen Mächten standen – und er erhoffte sich auch einen Hinweis, welche Rolle Schiannath, der Ausgestoßene, in den kommenden Ereignissen spielen sollte.
Das Windauge erinnerte sich mit Scham an seine Mitwirkung bei der Zeremonie, mit der der Krieger und seine Schwester verbannt worden waren. Als Schiannaths Herausforderung fehlgeschlagen war, wurde er, wie es die Tradition wollte, verbannt, und Iscalda, die eine tiefe Zuneigung zu ihrem Bruder verband, hatte darauf bestanden, ihm zu folgen. Chiamh war gezwungen gewesen, seine Kraft zu gebrauchen, um ihrer beider Namen aus dem Wind und möglichst auch aus der Erinnerung des Stammes zu löschen.
Der Rudelführer hatte Iscaldas Bestrafung noch eine grausame,
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