Die Artefakte der Macht 02 - Windharfe
die Schlucht hinunterführte, hatte sich eine dichte Kappe düsterer Sturmwolken über dem Berg gebildet, die eine Rückkehr des furchtbaren Winters verkündete. Als Chiamh innehielt, sah es so aus, als wären die anderen nur Marionetten, von denen ein verspielter Gott endlich die Fäden abgeschnitten hatte. Nachdem sie den alten Mann in den Schnee gelegt hatten, lehnten sie sich aneinander und sanken zu Boden.
Chiamh konnte sehen, daß die beiden Fremdländer sich vollkommen verausgabt hatten. Wie sollten sie den alten Mann durch den Hohlweg tragen, der noch schwieriger zu begehen war als die Strecke, die hinter ihnen lag? Und was war mit dem Sturm, der immer näher kam? Wenn sie es nicht schafften, vor dem Schneesturm vom Berg zu kommen, würden sie es überhaupt nicht schaffen. Sangra warf dem Windauge zitternd und mit wirr über ihr Gesicht hängendem Haar einen vorwurfsvollen Blick zu und fluchte verbittert. »Ist es noch sehr weit?« flüsterte sie.
Chiamh nickte, und die drei sahen einander schweigend an. Es war Partie, der schließlich aussprach, was alle gedacht hatten. Er sah Elewin an und biß sich auf die Lippen. »Bist du sicher, daß du ihn am Leben halten kannst, bis wir zurückkommen?«
»Ich glaube schon.« Das Windauge zögerte. »Aber wenn ich das tue, werde ich nicht in der Lage sein, meine Kräfte zu benutzen, um den Sturm so lange zurückzuhalten, bis wir in Sicherheit sind – was ich sonst vielleicht geschafft hätte.«
Der Kavalleriemeister blickte noch einmal auf den alten Mann hinunter, weigerte sich aber, Sangra anzusehen. »Bist du sicher, daß du ihn retten kannst, wenn wir ihn nach unten bringen?«
Einen Augenblick lang geriet die Zuversicht des Windauges ins Schwanken. Parric bat ihn, eine Entscheidung zu treffen, die entweder den alten Mann oder vielleicht sie alle vier töten würde. War es das wert? dachte er bei sich. Ist es das wirklich wert, ein verbrauchtes Leben, das nur noch an einem dünnen Faden hängt, zu retten und dabei zu riskieren, daß wir alle hier auf diesem Berg sterben? Da drängte sich ihm plötzlich eine Vision von seiner Großmutter auf – und die alte Frau musterte ihn mit einem finsteren Stirnrunzeln. Chiamh zuckte zusammen, als hätte sie ihn geschlagen, und richtete sich hoch auf. »Natürlich kann ich den alten Mann retten, und wir werden ihn hinunterbringen«, sagte er mit einer Zuversicht, die er ganz und gar nicht empfand. Während er sprach, wickelte er das Seil auf, mit dem er ursprünglich das Bündel Decken zusammengebunden hatte.
»Helft mir, das Seil um ihn herumzulegen«, wies er die beiden anderen an. »Das Gefälle in der Schlucht ist sehr steil – wenn wir ihn nicht tragen können, gelingt es uns vielleicht, ihn wie einen Schlitten zu ziehen.«
»Sei nicht dumm, Mann! Damit würden wir den armen, alten Kerl doch erst recht den Rest geben«, protestierte der Kavalleriemeister.
Chiamh seufzte. Parric hatte recht, aber die Alternative war gerade das, was er zu vermeiden gehofft hatte; nämlich sich vor diesen Fremdländern zu verwandeln und das Geheimnis der Xandim zu verraten … Ganz zu schweigen von dem Risiko, sich auf diesen Felsen ein Bein zu brechen! Aber wenn sie den alten Mann retten wollten, gab es keine andere Möglichkeit.
»Hört mir genau zu«, sagte er zu Parric und Sangra. »Erschreckt nicht über das, was ihr gleich sehen werdet – ich werde mich verändern …« Er wußte, daß er die Sache besser erklären sollte, aber die Worte blieben ihm in der Kehle stecken. Also fuhr er eilig fort, bevor sie Fragen stellen konnten: »Bindet mir den alten Mann auf den Rücken, und ich werde ihn weitertragen. Wenn wir unten am Fuß des Berges angekommen sind, nehmt ihn mir wieder ab – für den letzten Teil des Kliffs werde ich meine menschliche Gestalt brauchen.« Noch während er sprach, trat er einen Schritt zurück und versuchte, ihren verwunderten Blicken auszuweichen, damit sie nicht anfingen, ihm schwierige und unpassende Fragen zu stellen. »Und jetzt, ihr beiden – tretet zurück!«
Mit diesen Worten veränderte sich das Windauge. Die erschrockenen Ausrufe seiner Kameraden schrillten laut in Chiamhs Pferdeohren, und ihr fremder Gestank brannte in seinen Nüstern. Er begann, am ganzen Leib zu zittern. Was habe ich nur getan? dachte er wild. Dann biß er die Zähne zusammen und schnaubte laut, bevor er nervös zu den anderen trat. Er hatte das Geheimnis der Xandim bereits verraten – jetzt gab es kein Zurück
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