Die Artefakte der Macht 03 - Flammenschwert
Schlüssel vergessen!«
»Zanna!« Vannors Tadel war eine väterliche Instinktreaktion. »Solche Ausdrücke hast du aber nicht bei mir gelernt!«
»O doch, hab’ ich wohl!« Zanna kicherte – aber da ihr Kopf in diesem Augenblick in den Tiefen von Aurians Schrank verschwunden war, zweifelte sie daran, daß ihr Vater die Antwort gehört hatte. Hastig durchstöberte sie die zusammengefalteten Kleidungsstücke im Schrank, bis sie eine verblichene, alte graue Robe fand, wie die Magusch sie immer trugen. Sie zog das Kleid aus dem Stapel heraus, ließ ihre Hand in die Tasche gleiten, die Lady Aurian erwähnt hatte – und seufzte vor Erleichterung, als sich ihre Finger um ein kunstvolles Gebilde aus eiskaltem Metall schlossen. Schnell zog sie das Ding heraus, und da lag er, im Kerzenlicht funkelnd – ein kunstvoll gefertigter Schlüssel, der aussah wie poliertes Silber. Aurians Schlüssel zu den Archiven – und Zannas Schlüssel zur Freiheit.
Sie dachte, sie würde ihren Vater niemals die gewundene Treppe des Turms hinunterbringen. Für Zannas überanstrengte Nerven schien der Abstieg eine ganze Ewigkeit zu dauern. Obwohl sich Vannor mit seiner linken Hand am Geländer festklammerte und seine Tochter ihn auf der anderen Seite mit ihrer Schulter stützte, geriet er doch immer wieder ins Stolpern und taumelte wie ein Betrunkener. Hinzu kam noch die Gefahr, der Lady Eliseth zu begegnen, die jeden Augenblick von ihrem nächtlichen Ausflug zurückkehren konnte.
Als sie endlich am Fuß der Treppe angelangt waren, hätte Zanna am liebsten vor Erleichterung und Müdigkeit geweint. Neben der Notwendigkeit, ihrem Vater zu helfen, behinderte sie auch der Korb mit seinen lebenswichtigen Nahrungsvorräten, den sie auf dem Treppenabsatz neben den beiden Wachen – eine schlafend und die andere tot – stehen gelassen und nun wieder mitgenommen hatte. Der Korb erwies sich auch als äußerst nützlich, um die beiden Flaschen aus dem Gefängnis ihres Vaters zu transportieren, eine mit Wasser, die andere mit Schnaps gefüllt. Aber trotz des geflochtenen Griffs, den sie sich über den Arm hängen konnte, war der Korb immer noch sperrig und schwer – und er beraubte sie der Hand, die sie gebraucht hätte, um Vannor, falls er fiel, festzuhalten. Schon jetzt zitterte sie unter der Anstrengung, ihren Vater zu stützen – und wer konnte sagen, wie weit sie noch gehen mußten?
Als Tochter und Vater die Schwelle nach draußen überquerten, schien die kalte Nachtluft sie wiederzubeleben – diese und die Tatsache, daß sie der bedrückenden Atmosphäre im Turm endlich entronnen waren.
Glücklicherweise war der Weg durch den Hof zur Bibliothek nicht lang, obwohl er viel länger dauerte, als ihr lieb sein konnte, da Vannor nur mit unendlicher Langsamkeit von der Stelle kam. Der Mond war schon lange untergegangen, so daß kein Lichtstrahl die Flüchtlinge verriet. Keine Wachen traten ihnen in den Weg, um sie aufzuhalten, und keine Lady Eliseth sprang, fürchterlich in ihrem Zorn, aus den Schatten heraus, um eine Erklärung für die Flucht der beiden Sterblichen zu fordern. Es war beinahe zu schön, um wahr zu sein. Zanna, die in der nächtlichen Kühle zitterte, hatte das ungute Gefühl, daß sie ihr Glück schon über Gebühr beansprucht hatten. Das Blatt konnte sich jederzeit wenden.
Die Bibliothek war in der Dunkelheit ein Labyrinth von Hindernissen, und Zanna konnte sich lediglich mit Hilfe ihrer Erinnerung zur inneren Tür vortasten. Wieder und wieder hörte sie Vannors gedämpftes Fluchen und spürte, wie er ins Taumeln geriet, wenn sie wieder einmal mit einem unsichtbaren Hindernis zusammengestoßen waren – einem Tisch, einem Stuhl, einem in den Raum hineinragenden Regal. Zumindest, so versuchte sie sich zu trösten, würden sie sich keine Sorgen bereiten müssen, daß sie Spuren hinterließen. Die in Sachen Ordnung äußerst anspruchsvolle Lady Eliseth hatte sich in letzter Zeit sehr häufig in der Bibliothek aufgehalten und sich einen Luftzauber ausgedacht, mit dem sie alle Spinnweben und allen Staub losgeworden war.
Als sie im hinteren Teil des Raumes angelangt waren, mußte Zanna ihren Vater für eine Weile allein lassen, während sie sich mit ausgestreckten Händen weitertastete, um nach dem schmiedeeisernen Gitter zu suchen, das das Tor zum Archiv bildete. Als sie es endlich gefunden hatte, stand sie vor der nächsten schwierigen Aufgabe, nämlich allein mit Hilfe ihrer suchenden Finger das Schlüsselloch zu finden. Nach
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