Die Artefakte der Macht 04 - Dhiammara
suchte gewiß immer noch nach ihr, dessen war sie gewiß. In ihrer Menschengestalt hatte sie Männer wie ihn gekannt. Seine verletzte Eitelkeit würde es ihm niemals gestatten, sie ziehen zu lassen – genausowenig wie ihr eigener Stolz es zuließ, daß er sie jemals wieder einfing. Was auch geschah, Iscalda würde nicht aufgeben. Wenn sie nicht mehr laufen konnte, konnte sie sich zumindest verstecken. Wenn sie nur irgendwo Schutz finden würde, bevor die Phaerie sie entdeckten …
Nicht ohne Bedauern trat Iscalda mit steifen Gliedern aus dem lindernden Wasser heraus und trabte der schattigen Welt unter den Bäumen entgegen, um nach einem sicheren Ruheplatz zu suchen. Sie schien eine ganze Ewigkeit zu brauchen, um sich stolpernd und auf drei Beinen durch die Büsche zu zwängen, wobei sie sich nach Kräften bemühte, ihr verletztes Glied zu schützen. Sie kam nur qualvoll langsam voran; furchtbar der Gedanke an Entdeckung, furchtbar ihre, Erschöpfung und der qualvolle Schmerz in ihrem Bein; furchtbar die wachsende Angst, die ihr den Verstand zu rauben drohte; furchtbar der sinkende Mond, der nur allzuschnell dem Horizont entgegenstürzte. Sie mußte einen sicheren Platz finden, bevor sie die absolute Dunkelheit, die dem Untergang des Mondes folgen würde, einholte – sonst hatte sie kaum eine Chance, überhaupt irgendwo Zuflucht zu finden.
Als sie schließlich an eine günstige Stelle im Wald kam, war sie so erschöpft, daß sie sie beinahe übersehen hätte. Es gab kein Wasser hier, aber bis auf die Bresche, durch die sie getreten war, wurde die kleine Lichtung zu drei Seiten von Dorngestrüpp geschützt und von den tiefhängenden Ästen der Bäume überschattet. Zum erstenmal in dieser Nacht wußte Iscalda, daß sie nicht länger wegzulaufen brauchte, sondern sich endlich etwas ausruhen durfte. Dankbar ließ die Stute sich auf ihre schmerzenden Beine sinken und wurde sogleich von den tiefen Wassern des Erschöpfungsschlafes übermannt.
Es herrschte tiefe Dunkelheit, als Iscalda aufwachte. Sie witterte einen Wolf. All ihre Instinkte schrien ihr eine Warnung zu, und sie erhob sich mühsam auf die Füße – nur um schwer auf eine Seite zu fallen, als ihr verletztes Bein, das sie im Schlaf ganz vergessen hatte, unter ihr wegknickte. Verzweifelt mühte sie sich abermals hoch und warf den Schmerz in ihrem Vorderbein gegen die bei weitem wichtigere Frage des Überlebens in die Waagschale. Da! Eine Bewegung im Gebüsch; sie ertrank beinahe in dem Geruch des Wolfes. Wolf, Wolf, Wolf …
Iscalda bäumte sich auf, schlug mit ihrem gesunden Vorderbein aus, um zu verstümmeln, zu töten – und wandte sich mit einem gewaltigen, qualvollen Ruck zur Seite, der sie beinahe wieder zu Boden geworfen hätte. Aber mit einer ungeheuren Willensanstrengung gelang es ihr, sich im allerletzten Augenblick noch zu fangen. Ihr Herz hämmerte wie die Hufe eines durchgehenden Pferdes. Sie senkte den Kopf, blickte auf ihren Gegner hinunter und schnaubte, angewidert von ihrer eigenen Dummheit. Ein Wolf, wahrhaftig! Hätte sie ihre Menschengestalt getragen, hätte sie über sich selbst lachen können.
Der tödliche Räuber, der sie vor Angst fast wahnsinnig gemacht hatte, war ein so winziges Wolfsjunges, daß sie es beinahe mit einem einzigen Schnauben hätte weghusten können. Das jämmerliche kleine Geschöpf zitterte vor Kälte, und als es sie bemerkte, begann es vor Hunger zu wimmern. Iscaldas Ohren zuckten neugierig nach vorn. Sie fragte sich, wo seine Eltern wohl sein mochten – eine Frage, die auch ihr eigenes Überleben betraf. In der Nähe waren sie jedenfalls nicht, soviel stand fest – nicht, wenn das arme Junge so weinte. Ob sie in dem Feuer umgekommen waren? Oder hatten sie überlebt und suchten jetzt verzweifelt nach ihrem verlorenen Sprößling? Ihr erster Impuls, nämlich das Geschöpf zu töten, war der vernünftigste gewesen – was also hatte sie im letzten Augenblick davor zurückschrecken lassen? Trotz ihrer für ein Pferd natürlichen Abneigung gegen den Fleischfresser, empfand Iscalda Mitleid für das verirrte Baby. Es erinnerte sie an Aurians Sohn, an den kleinen Wolf …
Iscalda versteifte sich und schaute genau hin. Aber nein – das war doch nicht möglich! Sie hatten Wolf in der Sicherheit von Wyvernesse zurückgelassen, zusammen mit seinen wölfischen Zieheltern und den Nachtfahrern, die ihn beschützen würden. Was war dem Wolfspaar zugestoßen, das Aurian für ihren Sohn ausgewählt hatte? Warum sollten
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