Die Artefakte der Macht 04 - Dhiammara
sie ihn hierher bringen, hierher, wo tausend Gefahren auf ihn lauerten? Warum hatten sie ihn allein und hilflos zurückgelassen? Nein – es mußte ein anderes Wolfsjunges sein. Aber noch während Iscalda diesen Gedanken weit von sich zu weisen versuchte, wußte sie, daß sie hier wirklich Wolf vor sich hatte – sie erinnerte sich an den weißen Tupfen unter seinem Bann und an die Art, wie sich eines der spitzen, kleinen Ohren aufzustellen pflegte, während das andere schlaff herunterhing. Aber von alledem abgesehen, erkannte Iscalda auch in den Tiefen ihres Wesens seine Persönlichkeit, und zwar auf eine Art, die man einem Geschöpf, das nicht daran gewohnt war, seine Gestalt zu wechseln, Unmöglich hätte erklären können. Irgendwo hinter dem äußeren Erscheinungsbild des Tieres lag ein menschliches Wesen verborgen, und Iscalda erkannte dies, wie sie einen Hilfeschrei von ihresgleichen erkannt hätte.
Die Stute hob den Kopf und schob das Junge sanft näher an ihren warmen Leib heran. Sie konnte nicht umhin, seinen Mut zu bewundern. Trotz seiner Schwäche fauchte Wolf sie an und schnappte mit seinen winzigen Babyzähnen nach ihrem Gesicht, ohne sich auch nur im geringsten um den Größenunterschied zwischen ihnen zu scheren. Aber er fror, hatte Hunger und war allein, und zu guter Letzt schien er sich doch dazu durchzuringen, ihr zu trauen. Wenn sie ihm doch nur etwas zu essen geben könnte – das war es, was er im Augenblick am dringendsten brauchte –, aber wenigstens konnte sie ihn warmhalten. Iscalda war zu müde, um weitere Überlegungen anstellen zu können. Wenn es hell wurde und sie sich ein wenig ausgeruht hatte, würde sie entscheiden, was als nächstes zu tun war. Sie streckte sich neben dem Jungen aus, beschirmte ihn mit der Wärme ihres Leibes, und binnen weniger Minuten waren sie beide eingeschlafen.
Nachdem die Phaerie weitergezogen waren, machten sich die Rebellen – die immer noch voller Erleichterung und Staunen über die Geschehnisse sprachen – an die Arbeit. Sie mußten sich um das Abendessen und Schlafplätze für die Nacht kümmern, und sie mußten ihre wenigen Besitztümer zusammenpacken, damit sie morgen aufbrechen konnten. Ein Mitglied ihrer Gruppe hatte jedoch nur Augen für den tragischen Anblick, den Eilins immer kleiner werdende Gestalt bot. Da es in den südlichen Ländern keine Magusch mehr gab, betrachtete Yazours Volk die Magie und ihre Beherrscher mit noch größerer Ehrfurcht als die Sterblichen im Norden. Der junge Krieger war voller Bewunderung für die Art, wie die Lady Eilin dem furchtbaren Phaeriefürsten die Stirn geboten und ihn vertrieben hatte. Er durchschaute und verstand ihre Einsamkeit – war er selbst nicht in einer ähnlichen Position, jetzt, da die Menschen, die er liebte, tot, verschwunden oder weit, weit fort waren?
Die schattenhafte Gestalt in der hereinbrechenden Dunkelheit senkte den Kopf, und ihre Schultern hingen müde herab. Obwohl man das aus dieser Entfernung schwer sagen konnte, schien es Yazour, als ob sie weine. Wie sehr er sich doch wünschte, irgend etwas tun zu können, um sie zu trösten … Plötzlich durchlief ihn ein Schaudern. Wer vermochte die verschlungenen Wege der Götter zu erahnen? Jetzt war es ihm plötzlich ganz klar, daß es doch einen Grund gab, warum er hierher hatte kommen müssen. Yazour lächelte bei sich. Obwohl es zu spät war, um ihr zu folgen, gab es doch noch eine Möglichkeit, wie er Aurian helfen konnte. Was konnte er besseres für die Magusch tun, als sich in ihrer Abwesenheit um ihre Mutter zu kümmern?
Ganz erfüllt von seinem Plan, wäre er beinahe einfach über die Brücke gelaufen, um die Lady von seinem Vorhaben zu informieren – da fielen ihm ihre harten Worte wieder ein und der Ausdruck kalten, bösen Zorns in ihren Augen, als sie vor wenigen Minuten auf ihre Insel zurückgekehrt war. Yazour schluckte. Vielleicht sollte er eine Weile warten, bis sie Gelegenheit hatte, sich nach ihrem Zusammenstoß mit den Phaerie wieder ein wenig zu fassen. Sie brauchte ihn, soviel stand fest – unglücklicherweise würde er vielleicht seine liebe Not haben, sie davon zu überzeugen.
Seine Gefährten waren, als er während des verspäteten Abendessens mit ihnen darüber sprach, alles andere als ermutigend. Zu Yazours Entrüstung versuchte Vannor nicht einmal, seinem Gelächter Einhalt zu bieten. »Du willst die Lady Eilin beschützen?« kicherte er. »Yazour, du bist ein unverbesserlicher Romantiker. Vor welchen
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