Die Artefakte der Macht 04 - Dhiammara
habe ich das Gefühl, etwas sehr Schönes zu verpassen«, sagte D’arvan. »Da wäre nur ein Problem, Aurian – wie wirst du diese Andersicht unter Kontrolle bekommen? Es wird dir nichts nützen, wenn du einen Zugang zur Alten Magie hast und sie dich einfach so sehr in ihren Bann schlägt, daß du nichts mehr tun kannst.«
»Laß es sie noch einmal versuchen«, meinte Chiamh, »und diesmal werden wir fliegen. Sie weiß jetzt, was sie erwartet, daher wird es nicht mehr ein solcher Schock für sie sein. Vor allem wird sie etwas anderes haben, was ihre ganze Aufmerksamkeit fesselt. Ich werde sie die Kontrolle der Andersicht lehren, aber es wird viel Übung erforderlich sein – und genau dafür haben wir jetzt keine Zeit mehr.«
»Du glaubst nicht, daß es gefährlich ist?« fragte D’arvan zweifelnd.
»Ach, bringen wir es endlich hinter uns«, sagte Aurian unwirsch, »bevor wir hier auf diesem verwünschten Kliff noch alt und grau werden. Du hast mir schon erklärt, was ich tun soll – gib mir jetzt endlich den Talisman zurück, D’arvan.«
Widerstrebend reichte er ihr den schimmernden Stein, den die Magusch ihm beinahe aus der Hand riß. Als sie sich die Kette abermals um den Hals legte, tauchte sich die Welt von einer Sekunde auf die andere wieder in strahlendes Leuchten. Berauscht sah Aurian, wie Chiamhs Umrisse sich verwandelten und seine Aura dunklere, rauchigere Töne annahm, als er in seine Pferdegestalt schlüpfte. Nun, ihre Nervosität würde sich gewiß nicht dadurch legen, daß sie hier tatenlos herumstand und den gefürchteten Augenblick hinauszögerte. D’arvan formte mit den Händen einen Steigbügel für sie, und Aurian holte tief Luft und kletterte unbeholfen auf den Rücken des Windauges.
22
Abschied
Die Magusch, die eine Hand tief in Chiamhs Mähne bohrte, schloß die andere um den Talisman. Sie mußte der unvertrauten Magie ihre ganze Konzentration widmen, indem sie das Energiefeld, das ihre eigene Aura bildete, zusammenzog und es mit dem des Xandim unter ihr und den wirbelnden Silbersträhnen des Windes verschmelzen ließ. Chiamh schoß mit solcher Heftigkeit nach vorn, daß Aurian um ein Haar heruntergefallen wäre. Er setzte seine Hufe auf einen Weg aus funkelnder Luft und streckte die Beine zu etwas, das wie ein gewöhnlicher Galopp erschien – nur daß er und die Magusch mit jedem Schritt höher und höher in den Himmel stiegen.
Das erste, was Aurian auffiel, war die Kälte, die mit zunehmender Höhe schärfer wurde. Auch der Wind wurde kräftiger, ließ ihr die Augen tränen, die Ohren schmerzen und wehte ihr das Haar aus dem Gesicht. Chiamhs rhythmischer Schritt schien sich nicht sehr von dem anderer Pferde zu unterscheiden, seine Bewegungen waren nur glatter und fließender, und es fuhr einem nicht jedes Mal ein Ruck durch die Glieder, wenn die Hufe des Pferdes den Boden berührten. Bis auf diese Einzelheit hätte Aurian sich einbilden können, in gewohnter Manier über den Boden zu reiten – solange sie nicht hinabbückte. Eine ganze Weile achtete sie sorgfältig darauf, genau das nicht zu tun. Sie klammerte sich an Chiamh fest, duckte sich tief über seinen Hals und hielt die Augen fest geschlossen. Als sie dann endlich die Kühnheit fand, sie zu öffnen – vor allem, weil es noch beunruhigender war, nichts zu sehen –, heftete sie den Blick starr auf die aufgestellten, dunklen Ohren des Windauges.
Schließlich brachte Aurian genug Mut auf, in die Tiefe zu bücken. In den sinnverwirrenden, kristallinen Abbildungen der Andersicht flog den Boden schwindelerregend schnell unter ihr dahin; die Erde unter ihr war fern, aber doch makellos gestaltet, genauso wie sie es erlebt hatte, als sie vor so langer Zeit mit Chiamh auf den Winden nach Aerillia geritten war. Nun reiten wir also wieder zusammen, dachte die Magusch – und mit einemmal war ihre ganze Furcht wie weggeblasen, ausgelöscht von einer Woge der Wärme und des Vertrauens zu ihrem Gefährten. Auch die Sorgen, die sie in den letzten Stunden gequält hatten, ließen sich plötzlich leichter ertragen.
Lähmende Verzweiflung hatte die Magusch bedrückt, seit es Anvars Geist nicht gelungen war, mit ihr aus dem Brunnen der Seelen zurückzukehren, denn wenn er anderswo wiedergeboren wurde, konnte man ihn nicht einmal mit dem Kessel in seinen alten Körper zurückholen. Jetzt schien er endgültig für sie verloren zu sein, und dieser Gedanke war eine große Last. Gegen diesen Schmerz mußte die ankämpfen, um ihr
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