Die Artefakte der Macht 04 - Dhiammara
kalte Feuchtigkeit, die sie sofort durch ihren Rock spüren konnte, scherte sie sich nicht im mindesten. Wie konnte das nur geschehen? Offensichtlich waren die oberen Stockwerke des Maguschturms seit Jahren nicht mehr benutzt worden. Aber das war unmöglich – oder sollte es jedenfalls sein. Eliseths Gedanken kehrten zu ihrem beängstigenden Sturz durch den Riß in der Schöpfung zurück. Sie war auf ihrem Weg vom Tal nach Nexis eindeutig durch den Raum gewandert. War sie auch durch die Zeit gereist? Und wenn ja, wie viele Jahre war sie von ihrer eigenen Zeit entfernt? War sie in die Zukunft oder in die Vergangenheit gelangt?
»Benutz deinen Verstand!« murmelte die Magusch bei sich. »Es muß die Zukunft sein. Wäre ich in die Vergangenheit gereist, wäre die Akademie nicht so verlassen.« Aber wie weit in der Zukunft war sie jetzt? Eliseth erinnerte sich an ihr unbehagliches Gefühl, daß Nexis sich irgendwie von der Stadt ihrer Erinnerung unterschied. Hastig und ein wenig unbeholfen erhob sie sich, verließ das Treppenhaus und eilte zurück, quer über das flache Dach zu der niedrigen Mauer, von der aus man einen Blick auf die gewellte Landschaft der Dächer und Giebel hatte. In der Dunkelheit und aus dieser großen Höhe vermochte sie jedoch keine Einzelheiten zu erkennen, daher konnte sie im Augenblick nicht sagen, wieviel Zeit seit ihrem Aufenthalt in Nexis vergangen sein mochte. Obwohl eine Anzahl von Laternen die verdunkelten Straßen der Stadt säumte, gab es auf dem Gelände der Akademie weder Lichter noch irgendwelche anderen Lebenszeichen; auch der Wachraum am Tor war unbemannt. Eliseth hätte der einzige lebende Mensch auf der ganzen Welt sein können. Zum ersten Mal seit ihrem Triumph über Miathan verspürte sie den kalten Hauch wahrer Angst. Ohne Vorwarnung hatte man sie von allem fortgerissen, was ihr vertraut und sicher schien. Ein ungewohntes Gefühl der Einsamkeit durchfuhr sie, und sie schauderte.
So ging es nicht weiter! Mit großer Selbstbeherrschung schob die Wettermagusch die bösartigen Gefühle von Furcht und Verzweiflung, die ihren Verstand zu trüben drohten, beiseite. Dann richtete sie sich auf, drehte sich um und ging mit entschlossenen Schritten zurück zur Treppe. Plötzlich traf ihr Fuß auf etwas, das mit einem metallischen Rattern wegrollte und dabei einen Blitz purer Macht quer über das Dach schleuderte. Erschrocken erkannte Eliseth, daß der Gral zumindest teilweise die Verantwortung dafür trug, daß sie hier war. Sie bückte sich, um ihn aufzuheben, und verstaute ihn sicher in einer tiefen Tasche ihrer Robe. Das Schwert jedoch sollte für den Augenblick bleiben, wo es war. Aus bitterer Erfahrung wußte sie jetzt, daß sie besser nicht versuchte, sich seiner zu bedienen. Es hatte sie bereits einmal verletzt – tatsächlich, sie konnte von Glück sagen, ihre erste Begegnung mit dem Artefakt überhaupt überlebt zu haben. Bevor sie nicht herausfand, wie es zu beherrschen war – oder zumindest, wie man seinen wilden und tödlichen Kräften standhalten konnte –, war es ihr von keinerlei Nutzen.
Es war nicht leicht, die Treppe hinunterzusteigen. Da Eliseth sich nicht besonders gut auf die Feuermagie verstand, waren ihre unbeholfenen Versuche, ein Maguschlicht zu produzieren, kaum von Erfolg gekrönt. Ihre ohnehin nur fahlen Lichter hatten die ärgerliche – und gefährliche – Neigung, beim geringsten Nachlassen ihrer Konzentration flackernd zu verlöschen und die bedrohlich schlüpfrigen Stufen unter ihren Füßen in unerwartete Dunkelheit zu stürzen. Eliseth ging an Miathans Gemächern im oberen Stockwerk und an Aurians Tür auf der Etage darunter vorbei, ohne diese Räumlichkeiten eines zweiten Blicks zu würdigen. Dann steuerte sie geradewegs ihr eigenes Quartier an. Mittlerweile verspürte die Magusch den verzweifelten Wunsch, in vertrauter Umgebung ein wenig Trost zu suchen. Aber der Verfall und die Zerstörung, die ihr in ihrem Gemach entgegenschlugen, hatten kaum etwas Tröstliches. Ihre Räume, die früher so makellos sauber gehalten wurden, waren kaum wiederzuerkennen.
Eliseth wanderte von Zimmer zu Zimmer und prallte angewidert zurück, als ihre Füße beinahe bis zu den Knöcheln in die fauligen Überreste eines verrotteten Teppichs sanken. Die einstmals schneeweiße Farbe des weichen Flors war jetzt grau und von schwarzem Moder und grünlichem Schimmel durchsetzt. Die Entdeckung ihrer Juwelen, die nach wie vor sicher in ihrer staubigen Schachtel verwahrt
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