Die Artefakte der Macht 04 - Dhiammara
begreifen? Ich hatte einen gewissen Respekt vor deinem Mut und deiner Willenskraft. Solange sich dein Starrsinn nur auf dich selbst beschränkte, war ich bereit, dir deine Torheit zuzugestehen, aber jetzt hast du dich schon zum zweiten Mal einer Seele in meiner Obhut genähert. Als du dich das letzte Mal eingemischt hast, wurde ein Mann seines natürlichen Dahinscheidens beraubt und mir entrissen, so daß ein anderer von ihm Besitz ergreifen und ihn zu einer unnatürlichen Sklaverei verdammen konnte.«
Die Stimme des Todes klang streng und unerbittlich. »Forral, ich kann … ich wage es nicht, dir zu gestatten, länger hier zu verweilen. Ich hätte nie gedacht, daß ich solche Zeiten noch einmal erleben würde, aber in der Welt der Menschen ist eine Macht aufgetaucht, die den Kessel der Wiedergeburt mißbraucht, und du kannst dich nicht mehr ohne Gefahr in der Nähe der Tore aufhalten. Du mußt jetzt mit mir kommen – ihr beide müßt mit mir kommen – und in den Brunnen der Seelen eintreten, um wiedergeboren zu werden, bevor es endgültig zu spät ist.«
Forral hielt immer noch mit eisernem Griff Anvars Schultern umfaßt, aber der Magusch achtete kaum darauf. Bei den Worten der Geistererscheinung begriff er endlich, was Eliseth getan hatte – und warum. Noch bevor er den Mund öffnen konnte, um die anderen zu warnen, spürte er, wie etwas Falsches seinen Anfang nahm – die ersten Regungen einer geheimnisvollen, unsichtbaren Macht, die wie das Anschwellen einer schmutzigen Hut durch die geschlossenen Türen des Todes griff. Die nebelverhangene Landschaft um ihn herum flackerte kurz, und er spürte, wie er von einer riesigen, unsichtbaren Hand ergriffen wurde, die ihn zurück durch das Portal riß, das die Lebenden von den Toten trennte.
»Nein!« brüllte der Tod. »Das werde ich nicht zulassen!«
Einen Augenblick lang herrschte absolute Verwirrung. Anvar spürte, wie eine von Forrals Händen von seinen Schultern herabglitt, obwohl der Schwertkämpfer auf der anderen Seite noch fester zupackte. Die Macht hinter der Tür zerrte weiter an dem Magusch, fester und fester, und je entschlossener die Kraft an ihm zog, um so schmerzlicher wurde ihr Zugriff. Dann spürte Anvar zum ersten Mal den betäubenden Hauch des Todes, als die Geistererscheinung beide Hände fest um seine Arme schloß. Er hörte noch einen Aufschrei von Forral – eine Mischung aus Entsetzen und Triumph –, dann standen nur noch zwei Gestalten, wo vorher drei gewesen waren.
Auf dem Dach der Akademie ließ die Wettermagusch noch ein paar Tropfen Wasser aus dem Gral auf die klaffende Wunde an Anvars Kehle laufen und sah befriedigt zu, wie der Blutstrom aus den durchtrennten Arterien zum Erliegen kam, und das zerfetzte Fleisch sich wieder zusammenfügte. Angespannt wartete Eliseth. Es schien sehr lange zu dauern, bis ihr Opfer ins Leben zurückkehrte – weit länger als bei Bern. Mit finsterem Blick schaute sie auf den leblosen Körper herunter und ballte die Fäuste so fest, daß ihre Fingernägel sich in die Haut ihrer Handflächen gruben. Wenn das nicht funktionierte …
Anvar zuckte einmal und zappelte wie ein gestrandeter Fisch, bevor sich seiner Brust ein keuchender, zittriger Atemzug entrang. Eliseth handelte sofort und belegte ihn abermals mit einem Zeitzauber. Dann lehnte sie sich mit einem unendlichen Gefühl der Erleichterung zurück. Einen Augenblick lang dachte sie daran, den Zauber aufzulösen, um ihre Macht zu erproben, wie sie es bei Bern und Vannor getan hatte – aber andererseits, warum sollte sie ein solches Risiko eingehen? Der Gral hatte bei den ersten zwei Opfern bestens funktioniert, und er war weit mächtiger als jede Magie, mit der dieses erbärmliche Halbblut ihm vielleicht hätte Widerstand leisten können.
Außerdem hatte Eliseth es eilig. Sie hatte getan, was sie sich vorgenommen hatte – und die Informationen, die sie aus Anvars Geist entnommen hatte, übertrafen ihre kühnsten Erwartungen. Bisher hatte sie niemals über Nexis hinaus gedacht – aber warum sollte sie ihren Ehrgeiz auf den Norden beschränken? Jetzt, da sie Vannor in ihrer Gewalt hatte, konnte sie sich der Herrschaft hier gewiß sein, und für Aurians Rückkehr stand schon Anvar parat. Wenn sie nun nach Süden reiste und versuchte, sich andere Rassen zu unterwerfen, konnte sie ihre Macht tausendfach vergrößern, bevor ihre Feinde – ob Aurian oder Miathan, wo immer er sich aufhielt – sie finden konnten. Außerdem war sie dann auf jeden
Weitere Kostenlose Bücher