Die Artefakte der Macht 04 - Dhiammara
über diese südlichen Königreiche zu machen.
Die Magusch stand an dem einsamen, windgepeitschten Strand und sah zu, wie die geisterhafte Silhouette des grauen Nachtfahrerschiffs in der verregneten Dunkelheit verschwand. Sie war sehr erleichtert, das Heck des Schiffes zu sehen. Dies war ihre erste Seereise gewesen und hoffentlich auch ihre letzte – die Meere waren nach dem Erdbeben in Nexis immer noch furchtbar rauh gewesen, und sie hatte nicht gewußt, daß man so erbärmlich krank sein konnte.
Eliseth schauderte, und der Grund dafür war nicht nur die schneidende, feuchte Kälte. Sie hatte sich noch nie in ihrem Leben so verletzlich gefühlt. Noch nie war sie ohne die Privilegien gewesen, die ihr der Tradition nach zustanden: dem Luxus und der Sicherheit der Akademie und dem Schutz und der Autorität ihres Rangs als Magusch, der sie zum Mitglied der mächtigen Elite der Stadt machte. Jetzt mußte sie aus dem ihr zur Verfügung stehenden Material ihre Zukunft meißeln, und sie blickte diesem Unterfangen mit einer beunruhigenden Mischung aus Angst und Vorfreude entgegen.
»Lady – bitte, was sollen wir jetzt machen? Ich friere, und ich habe Hunger und diese Last, die du mir gegeben hast, wiegt so schwer …«
Eliseth drehte sich zornig zu dem nörgelnden Bern um. »Hör auf zu winseln, Sterblicher – sonst gebe ich dir noch einen Grund für dein erbärmliches Gejammer! Und steh nicht einfach da nun – such uns einen Platz, wo wir unterkommen können, bis dieser verfluchte Regen aufhört.«
»Hab Erbarmen, Lady – wo soll ich hingehen? Ich kann nicht im Dunkeln sehen wie du«, jammerte Bern.
Die Magusch knirschte verärgert mit den Zähnen. »Im Namen aller Götter – warum habe ich dich bloß mitgeschleppt?« brauste sie auf. Auf der Suche nach einem Ventil für ihren Zorn, nahm sie all ihre Kräfte zusammen und versetzte den Wolkenbergen am Himmel über ihr einen zornigen Schlag. Sofort ließ der Regen nach und machte einer plötzlichen Stille Platz, als wäre die Welt selbst von ihrer Tat überrascht.
Eliseth drehte sich zu Bern um, der sie mit offenem Mund anstarrte. »Komm, folge mir. Und nimm das da auch noch; du taugst ja doch nur als Lasttier.« Eliseth warf ihm die Tasche zu, die die wenigen Besitztümer enthielt, die sie aus Nexis hatte retten können. Mit einem Aufblitzen gehässiger Befriedigung sah sie, wie er unter dieser zusätzlichen Last ins Taumeln geriet. Ohne einen Blick zurückzuwerfen, stolzierte sie einfach davon, mit dem sicheren Wissen, daß ihr sterblicher Sklave ihr schon folgen würde. Sie hatte keine Zeit übrig, die sie an ihn verschwenden konnte – es gab genug zu tun. Die nächsten Monate würden eine große Herausforderung darstellen, aber Eliseth zweifelte nicht daran, daß sie dieses Land schon bald unter ihre Herrschaft zwingen konnte. Schließlich hatte Aurian das ebenfalls getan, und was diese rothaarige Hexe zuwege brachte, sollte für sie, Eliseth, wohl eine Kleinigkeit sein.
Es war nur gut, daß Eliseth ihre Entschlossenheit hatte, die ihr Kraft gab. Im Windschatten eines Felsbrockens, der irgendwann einmal zu dem überhängenden Kliff über ihr gehört hatte, verbrachte sie zitternd die unangenehmste Nacht ihres Lebens. Obwohl sie einen magischen Schild um sich herum aufgebaut hatte – zum Schutz vor dem kalten Wind und vor allem vor möglichen weiteren Steinschlägen von oben –, war sie doch außerstande, die eisige Nachtluft zu erwärmen oder den steinigen Boden, auf dem sie lag, ein wenig weicher zu machen. Bei der Anstrengung, den Schild aufrechtzuerhalten und der Furcht vor dem, was passieren konnte, wenn ihr das nicht gelang, machte sie die ganze Nacht kein Auge zu.
Eine graue Morgendämmerung kroch widerstrebend über den Horizont, eingeläutet von Berns Husten. Eliseth streifte den zitternden Sterblichen mit den tief eingefallenen Augen mit einem finsteren Blick. Seit dem Tod seiner Familie hatte Bern sich vernachlässigt, und die rauhe Seereise und die Nacht auf dem ungeschützten, unwirtlichen Strand waren für seine schwächliche, sterbliche Konstitution zuviel gewesen. Typisch! Hätte sie es nicht besser gewußt, hätte sie geschworen, daß er es mit Absicht tat, nur um sie zu ärgern. Wirklich, diese verfluchten Sterblichen waren ohne jeden Nutzen – sie waren so zerbrechlich, daß die leichteste Unannehmlichkeit sie erledigte. Aber es widerstrebte ihr trotzdem, ihn zurückzulassen. Es war zu bequem, einen Diener zu haben – vor allem einen,
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