Die Artefakte der Macht 04 - Dhiammara
überwältigenden Freude, die ihn beim Anblick seiner verlorenen Liebe erfaßt hatte, trat nun das flaue Gefühl, daß etwas Furchtbares passiert sein mußte, etwas Unbeschreibliches. Obwohl Forral der Magusch am liebsten Hals über Kopf gefolgt wäre, blieb er für den Augenblick, wo er war, und versuchte sich Klarheit über seine Situation zu verschaffen. Als Aurian weggerannt war, hatte sie ihr Maguschlicht mitgenommen und den Raum wieder in tiefe Dunkelheit gestürzt. Der kränklich blasse Strahl des Mondlichts, der durch den Fensterflügel fiel, vermochte kaum etwas gegen die Finsternis auszurichten. Das Licht reichte Forral gerade, um die Kerze in dem angelaufenen Kerzenständer auf dem Nachttisch zu sehen, aber er brauchte eine ganze Weile, um in der unvertrauten Lederkleidung, die irgendwie merkwürdig zusammengestellt war, einen Feuerstein zu finden. Schließlich hatte er die Kerze entzündet. Dann streckte er seine Hand aus, um sich in dem flackernden, bernsteinfarbenen Licht betrachten zu können.
Forral runzelte die Stirn. Was war das? Leicht gebräunte Haut und lange, spitz zulaufende Finger. Ein zarter Schimmer hellen, goldenen Haars auf dem Handrücken. Schwielige Fingerspitzen, aber keine der tiefen Schwertnarben, die seine eigenen Hände und Unterarme übersät hatten. Forral fröstelte. Das hier war nicht seine Hand. Verzweifelt tastete er sein Gesicht ab. Kein Bart. Er biß die Zähne zusammen und schüttelte fassungslos den Kopf. »Was, verflucht noch mal, hast du eigentlich erwartet?« fragte er sich barsch. Zorn war auf jeden Fall besser als Angst. »Du bist seit Jahren tot und begraben, du jämmerlicher Narr – dein Körper war schon vor langer Zeit nur noch Futter für die Würmer!« Bei diesem Gedanken erfaßte ihn eine leichte Übelkeit. Sein Verstand arbeitete nur träge, als hätte er sich noch nicht so recht an sein neues Gefäß gewöhnt.
Dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Also, wessen Körper habe ich gestohlen?
Aurian war bei ihrer überstürzten Flucht aus dem Turm zweimal hingefallen, aber die Biegungen des Treppenhauses hatten ihren Fall jedesmal gebremst, so daß ihr nichts Ernstliches geschehen war. Bei ihrem zweiten Sturz – gerade als die Magusch sich wieder aufrappelte – kam ihr Shia auf der Treppe entgegen. Aurian stieß die Katze beiseite und lief auch noch die restlichen Treppenstufen hinunter. Sie wußte, daß Shia ihr folgte, wollte aber im Augenblick die verzweifelten Fragen ihrer Freundin noch nicht beantworten. Nicht jetzt. Zuerst mußte sie aus dem Turm raus. Zutiefst erschüttert und mit blauen Hecken übersät, taumelte Aurian ins Freie, krümmte sich zusammen und erbrach sich. Dann stand sie keuchend da, sog die kalte Nachtluft tief in ihre Lungen und versuchte sich zu beruhigen. Jetzt, da sie diese Kreatur aus Anvars Körper und Forrals Stimme hinter sich gelassen hatte, konnte Aurian langsam wieder vernünftig denken.
»Was ist passiert?« Plötzlich stand Shia neben ihr. »Ist Anvar da oben? Ich habe in deinen Gedanken gesehen, daß er dort war – und dann war er es wieder nicht. Ist er da oben? Können wir ihm helfen?«
Die Magusch atmete tief durch, lehnte sich gegen den kalten, weißen Stein der Turmmauer und versuchte entschlossen, ihrer Verwirrung Herr zu werden. »Nein«, sagte sie tonlos, da ihr nichts anderes einfiel. Sie würde nicht weinen. Sie durfte nicht weinen – sonst würde sie nie wieder aufhören. Jetzt, da Aurian etwas ruhiger war, spürte sie, daß ihre Freundin versuchte, die Erinnerungen an diese qualvollen letzten Minuten aus ihren Gedanken herauszulesen. »Bist du sicher, daß es Forral war?« fragte Shia sie. »Erinnere dich an jenen Tag in der Wüste«, fuhr die Katze fort. »Eliseth hat solche Trugbilder schon früher benutzt. Was du zu sehen glaubtest – das kann doch einfach nicht möglich sein? Wie kann ein toter Geist von einem Lebenden Besitz ergreifen?«
Einen Augenblick lang schlug Aurians Herz bei diesem Gedanken höher – aber ihr Verstand wußte es besser. Sie war nicht länger das unerfahrene junge Mädchen, das sich in seiner Verwirrung und Trauer in der Wüste so leicht hatte übertölpeln lassen. Sie wußte genau, was sie gehört und gesehen hatte. Außerdem konnte sie den scharfen Kummer hinter Shias Gedanken spüren und begriff, daß die Katze sich vor dem Gedanken verschloß, Anvar könne vielleicht tot sein.
»Nein, ich habe mich nicht geirrt«, sagte sie zu ihrer Freundin. »Anvar ist
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