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Die Asche der Erde

Die Asche der Erde

Titel: Die Asche der Erde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Hadrian, sondern an seinen kleinen Zauberer gewandt. »Manche waren Eltern, die ihrem Kind auf die andere Seite gefolgt sind.« Er blickte auf. »Es gibt jetzt nicht mehr Selbstmorde als zuvor.«
    Hadrian benötigte einen Moment, um die Worte zu verdauen. Der Junge hatte sie sich gut überlegt – oder er war gut vorbereitet worden. Und soweit Hadrian wusste, hatte Dax recht. Die Selbstmordrate war zwar schrecklich hoch, hatte sich im Laufe der letzten Jahre aber nicht geändert. »Was also bist du? Ein Reisebegleiter für Tote?«
    Der Junge hob zögernd den Kopf, als fürchte er direkten Augenkontakt. »Reisebegleiter?«
    »Du zeigst ihnen, wie man das Seil benutzt, wo man es befestigt, wie man die Reise antritt. Und welchen Weg man nimmt.«
    »Nicht bei allen. Hauptsächlich bei den Jüngeren. Sie denken darüber nach, sprechen mit der Gruppe. Wenn Sie sich dazu entschieden haben, helfen wir ihnen einfach. Manchmal möchten sie mehr über die Geister erfahren. Manchmal kommt Sarah und liest ihnen Shakespeare vor. Dieser Shakespearewusste alles über Geister. ›Ich bin deines Vaters Geist‹, sagt dieses alte Gespenst zu Mr. Hamlet.«
    Es beunruhigte Hadrian, wie vertraut der Junge mit Selbstmorden war. Aber noch viel schlimmer fand er die nüchterne Art und Weise, mit der Dax davon erzählte. »Neulich auf dem Hügel bei der Senkgrube. Das war kein Spiel, sondern ein Probelauf.« Es war ein halbes Dutzend Kinder dort gewesen, erinnerte Hadrian sich, darunter die Töchter des Gouverneurs. Sollte eines der beiden Mädchen die Nächste sein?
    Dax reagierte nicht.
    Hadrian bekam die Worte kaum über die Lippen, so fest schnürte seine Kehle sich zu. »Hast du sie je hinterher gesehen, Dax? Hast du je einen von ihnen vom Seil geschnitten?«
    »Ich lasse sie in Ruhe. Es ist ein Moment der Stille. Aber Sie machen das manchmal. Ich habe gesehen, wie die Kinder sich verstecken, um jemanden vorbeigehen zu lassen. Meistens ist es die Polizei, aber gelegentlich sind Sie das. Sie sind ein Betrüger, Sie betrügen den Tod und wollen den Kindern ihre Schätze vorenthalten. Das sagt man, sobald Sie weg sind.«
    Hadrian ballte die Fäuste. »Kenton ist also hinter dieser Karte her?«
    »Er hat Gerüchte gehört. Ich glaube, er weiß es nicht mit Sicherheit. Die Polizisten verhindern die Selbstmorde, wenn sie es können. Alle paar Monate holen sie uns aufs Revier und verhören uns über einen Selbstmordkult. Es gibt keinen Kult, sage ich dann, es gibt bloß einen Freizeitklub.«
    Dax stand auf und nahm Hadrian das Papier aus der Hand. Hadrian ließ es zu.
    »Falls du dir hinsichtlich der Schätze auf der anderen Seite so sicher bist, Dax, wieso bist du selbst noch nicht gegangen, um sie dir zu holen?« Es war eine brutale Frage, und Hadrian schämte sich noch im selben Moment dafür.
    Der Junge rollte wortlos die grausige Karte zusammen.Erst als er sie wieder in ihrem Versteck verstaut hatte, wandte er sich Hadrian zu. »Was ist mit Ihnen, Mr. Boone? Was glauben Sie, wohin die anderen gehen?«, fragte Dax ernst. »Ich habe die Geister gesehen, aber Sarah hat uns mal ein Jesusbuch gezeigt, in dem Engel abgebildet sind. Die sind ganz anders als die Geister, die ich kenne. Engel leben im Himmel. Ist es das, was Sie glauben?«
    Hadrian fühlte sich, als hätte man ihm einen Tritt versetzt. In der Anfangszeit der Kolonie hatte ein verkrüppelter Priester den Weg hierher gefunden. Er hatte regelmäßig in einer Taverne über einer Flasche Whiskey Hof gehalten und gepredigt, dass der Himmel nach der Apokalypse voll sei und der heilige Petrus ein Besetzt-Schild ans Tor gehängt habe. Wenn Hadrian hingegen versuchte, sich ein Dasein nach dem Tode vorzustellen, sah er immer nur seine Angehörigen im letzten Moment ihres Lebens vor sich, wie sie ihn vorwurfsvoll ansahen, während das Fleisch von ihren Knochen gebrannt wurde.
    »Ich glaube Folgendes, Dax«, sagte er schließlich mit merkwürdig heiserer Stimme. »Ich glaube, dass dein Leben nicht ausschließlich dir allein gehört. Wir brauchen dich hier, wir brauchen all die Kinder hier. In der Welt, die du kennst, lässt sich immer noch ein gutes Leben aufbauen.«
    »Mr. Jonah war anderer Ansicht.«
    Die Worte entfachten bei Hadrian eine jähe Wut. Er stand auf und packte den Jungen bei den Schultern. »Jonah hat sich nicht umgebracht!«
    Dax ignorierte seine Worte. Er machte sich los und sah Hadrian ins Gesicht. »Vielleicht ist es ja egal, wer ihm die Schlinge um den Hals gelegt hat.

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