Die Asche der Erde
versperrte dabei weiterhin den Ausgang. »Kenton hat gesagt, er habe euch am Vorabend gesehen. Und er wollte etwas finden, das ihr habt. Was war damit gemeint?«
Dax hielt sich den Zauberer wie zum Schutz ans Kinn und ließ Hadrian argwöhnisch nicht aus den Augen. Aber er sagte nichts.
»Ich versuche zu helfen, Dax. Was macht ihr für die Schakale?«
»Wir kommen gut ohne Hilfe zurecht.«
Hadrian begriff, wie wenig er über den Jungen wusste. Dax war kein Kind mehr, aber auch noch nicht erwachsen. Ihm fiel ein, dass der Junge von Waisen gesprochen hatte. »Was ist mit deinen Eltern geschehen?«
»Die sind schon vor Jahren auf die andere Seite gewechselt«, entgegnete Dax tonlos. »Und wenn mein Onkel mich sieht, sagt er immer, dass er sich nicht mit Kriminellen abgeben will.«
»Was hat Kenton am Abend zuvor gemacht?«
»Er hat uns in einem der Ställe in die Enge getrieben. Dann hat er zwei der Älteren für eine Bergungsmannschaft mitgenommen. Sie müssen jetzt zwei Monate lang Schienen über die Berge schleppen.«
»Wie alt?«
»Elf oder zwölf. Er sagt, er wird sich jede Woche einen von uns holen.«
»Aber deren Eltern werden doch sicherlich …«
»Es sind alles Waisen. Sie wohnen in der Schule, genau wie ich, wenn es zu kalt wird, um hier zu schlafen. Kenton regelt das mit den Lehrern, wenn er uns mitnehmen will.«
Hadrian konnte kaum an sich halten. Die Polizei schien ihre Tentakel jede Woche ein Stück weiter auszustrecken. »Er hat dir gedroht, dich aber nicht mitgenommen. Was bedeutet, er hat die anderen zum Arbeitsdienst gezwungen, um Druck auf dich auszuüben. Was hast du, das er will?« Während er sprach, gab Hadrian die Tür frei, so dass der Junge eine Gelegenheit zur Flucht gehabt hätte. Dax rührte sich jedoch nicht, abgesehen von einem verstohlenen Blick zum Schreibtisch.
Hadrian war eine Sekunde schneller als der Junge und hatte die Hand bereits auf dem losen Brett, als Dax seinen Arm packte, um ihn aufzuhalten. Hadrian zog das Brett heraus,griff in die Öffnung und fand ein zusammengerolltes Stück Papier. Dax schien sich zu ducken, als wolle er ihn angreifen. Aber Hadrian stieß ihn zurück auf die Bank und entrollte das Papier auf dem Schreibtisch.
Es war eine handgezeichnete Karte. Ihr zentrales Merkmal war eine lange, geschwungene Kurve, die nach Osten wies. Darüber verlief eine Schlangenlinie unterhalb kleiner Wellen. Ansonsten gab es nur noch das Abbild eines knorrigen toten Baumes im Westen der Kurve sowie zehn kleine Kreise entlang des Bogens, jeweils mit einem Datum versehen. In sieben der Kreise war ein X verzeichnet.
Hadrian sah Dax fragend an, aber der Junge starrte nur ausdruckslos auf seinen Zauberer. Boone wies auf die Wellen. »Das ist der See«, stellte er fest und legte den Finger auf den verdorrten Baum. »Die alte Eiche oberhalb der Schlucht.« Er zeigte auf eine freie Stelle zwischen Bogen und See. »Die Fischverarbeitungsfabrik liegt ungefähr hier. Ist es das, was du für die Schakale tust? Bewahrst du für sie irgendwelche Geheimnisse?«
Dax sagte nichts.
Die ältesten Daten unter den Kreisen lagen drei Jahre zurück. Die Erkenntnis begann als eine Beklemmung in der Kehle und stürzte dann wie ein Amboss auf ihn herab. Hadrian ließ sich neben dem Jungen auf die Bank sinken.
»Selbstmorde«, sagte er langsam. »Die Kinder.« Er erkannte mehrere der Daten wieder, denn er hatte mehr als einmal die verzweifelten Eltern nach ihren verschwundenen Söhnen oder Töchtern rufen gehört und war zur Unterstützung geeilt. Am Ende hatte er nur noch bei der Bergung der Leichen helfen können. Die Hügelkette war während der letzten Jahre zu einem bevorzugten Ort für Selbstmorde von Kindern geworden. Er stöhnte auf. »Warum notierst du dir die Todesfälle? Und wieso interessiert Kenton sich dafür?«
Er fuhr mit dem Finger die Daten und Kreise entlang. Beim ersten leeren Kreis hielt er inne. Das Datum lag einen Monat in der Zukunft. Hadrian wurde sehr still. Als er schließlich sprach, zitterte seine Stimme. »Wie lange hast du diese Karte schon?«
»Ein Jahr, vielleicht etwas länger.«
Hadrian schloss kurz die Augen. Das war kein nachträgliches Verzeichnis der Selbstmorde, sondern ihr Ablaufplan. Er zeigte auf den leeren Kreis. »Für nächsten Monat wurde ein Selbstmord angeordnet.«
Der Junge widersprach ihm nicht. »Die Leute entscheiden selbst, wann sie gehen möchten.«
»Leute? Das sind noch Kinder.«
Dax sprach flüsternd weiter, nicht an
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