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Die Asche meiner Mutter - Irische Erinnerungen

Die Asche meiner Mutter - Irische Erinnerungen

Titel: Die Asche meiner Mutter - Irische Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank McCourt
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habe ihn nicht gefragt, weil es mir egal war. Oliver war tot, und ich haßte Dohlen. Eines Tages würde ich ein Mann sein, und dann wollte ich mit einem Sack Steine wiederkommen und überall auf dem Friedhof tote Dohlen hinterlassen.
     
     
    Am Morgen nach Olivers Beerdigung ging Dad aufs Arbeitsamt, um zu unterschreiben und die erste Woche Stempelgeld abzuholen, neunzehn Shilling und sechs Pence. Er sagte, gegen Mittag ist er wieder zu Hause, er holt Kohlen und macht Feuer, es gibt Eier mit Speckstreifen und Tee zu Ehren von Oliver, und vielleicht gibt es sogar ein oder zwei Bonbons.
    Um zwölf war er nicht zu Hause, um eins nicht, um zwei nicht, und wir kochten und aßen die paar Kartoffeln, die ihm einen Tag vorher der Gemüsemann gegeben hatte. Er kam überhaupt nicht, bevor an jenem Tag im Mai die Sonne untergegangen
war. Es war von ihm nichts zu sehen und zu hören, aber dann haben wir ihn doch gehört, lange nachdem die Kneipen geschlossen hatten, wie er durch die Windmill Street torkelte und sang:
    Wenn alles ringsum Wache hält –
Der Westen schläft, taub für die Welt.
Ganz Erin zag der Kummer quält,
Wenn Connaught tief in Schlummer fällt.
See lacht und Eb’ne grad und quer,
Fels trutzig ragt wie Reiterheer.
Singt: Daß den Menschen Freiheit lehr’
Der geißelnde Wind, das peitschende Meer. Ref 15
    Er stolperte ins Zimmer und hielt sich an der Wand fest. Rotz quoll aus seiner Nase, und er wischte ihn mit dem Handrücken ab. Er versuchte zu sprechen. Dieje Kinder jollten längcht im Bett jein. March, Kinder, inch Bett, inch Bett.
    Mam trat ihm entgegen. Diese Kinder haben Hunger. Wo ist das Stempelgeld? Dann holen wir Fisch und Fritten, damit die Kinder was im Bauch haben, bevor sie ins Bett marschieren.
    Sie versuchte, ihre Hände in seine Taschen zu stecken, aber er stieß sie weg. Ein bichjen Rechpeck, sagte er. Rechpeck in Anwejenheit der Kinder.
    Sie kämpfte, um an seine Taschen zu kommen.
Wo ist das Geld? Die Kinder haben Hunger. Du verrückter Schweinehund, hast du wieder das ganze Geld vertrunken? Genau wie in Brooklyn.
    Er flennte, ach, meine arme Angela. Und die arme kleinwinzige Margaret und der arme kleinwinzige Oliver.
    Er taumelte auf mich zu und umarmte mich, und ich roch das Getränk, das ich schon in Amerika gerochen hatte. Mein Gesicht war naß von seinen Tränen und seiner Spucke und seinem Rotz, und ich hatte Hunger, und ich wußte nicht, was ich sagen sollte, als er anfing, mir den ganzen Kopf vollzuweinen. Dann ließ er mich los und umarmte Malachy und machte immer weiter mit der kleinwinzigen Schwester und dem kleinwinzigen Bruder, kalt in der Erde, und daß wir alle beten müssen und brav sein, daß wir gehorchen müssen und immer tun, was uns unsere Mutter sagt. Er sagte, wir haben unseren Kummer, aber für Malachy und mich wird es Zeit, mit der Schule anzufangen, denn es gibt nichts Besseres als eine Bildung, eine Bildung ist und bleibt die beste Waffe, und ihr müßt bereit sein, euren Beitrag für Irland zu leisten.
     
     
    Mam sagt, sie erträgt keine weitere Minute in diesem Zimmer in der Windmill Street. Sie kann nicht schlafen, sie denkt immer an Oliver in diesem
Zimmer, Oliver in dem Bett, Oliver, der auf dem Fußboden spielt, Oliver, der am Feuer bei Dad auf dem Schoß sitzt. Sie sagt, es ist nicht gut für Eugene, wenn er hier ist; ein Zwilling leidet mehr unter dem Tod seines Bruders als selbst eine Mutter ermessen kann. In der Hartstonge Street gibt es ein Zimmer mit zwei Betten, anstatt des einen Bettes, das wir hier zu sechst haben  – nein, zu fünft. Das Zimmer besorgen wir uns, und damit das auch klappt, geht sie ganz bestimmt am Donnerstag mit Dad aufs Arbeitsamt, um das Geld sicherzustellen, sobald er es ausgezahlt bekommt. Er sagt, das kann er nicht machen, da blamiert er sich ja vor den anderen Männern. Das Arbeitsamt ist ein Ort für Männer, nicht für Frauen, die ihnen das Geld vor der Nase wegschnappen. Sie sagt, du kannst einem echt leid tun. Wenn du das Geld nicht in den Kneipen durchgebracht hättest, müßte ich nicht hinter dir her sein wie damals in Brooklyn.
    Er sagt ihr, diese Schande verkraftet er nicht. Sie sagt, das ist ihr egal. Sie will dieses Zimmer in der Hartstonge Street, ein schönes, warmes, behagliches Zimmer mit Klo am Ende des Ganges, genau wie in Brooklyn, ein Zimmer ohne Flöhe und die todbringende Feuchtigkeit. Sie will dieses Zimmer, weil es in derselben Straße ist wie Leamy’s National School, und Malachy und ich

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