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Die Asche meiner Mutter - Irische Erinnerungen

Die Asche meiner Mutter - Irische Erinnerungen

Titel: Die Asche meiner Mutter - Irische Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank McCourt
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nicht weiß, wenn man das Apostolische Glaubensbekenntnis nicht aufsagen kann, wenn man nicht neunzehn und siebenundvierzig addieren kann, wenn man neunzehn nicht von siebenundvierzig subtrahieren kann, wenn man die wichtigsten Städte und Erzeugnisse der zweiunddreißig Grafschaften von Irland nicht weiß, wenn man Bulgarien auf der großen Wandkarte nicht findet, die fleckig von Spucke und Rotz ist und von Tinte aus Tintenfässern, von wütenden Schülern geschmissen, nachdem sie von der Schule geflogen sind.

    Sie schlagen einen, wenn man seinen Namen nicht auf irisch sagen kann, wenn man das Ave-Maria nicht auf irisch aufsagen kann, wenn man nicht auf irisch Darf ich mal austreten? fragen kann. Es ist gut, den großen Jungens eine Klasse höher zuzuhören. Sie können einem von dem Lehrer berichten, den man jetzt hat, was er mag und was er haßt.
    Ein Lehrer wird einen schlagen, wenn man nicht weiß, daß Eamon De Valera der bedeutendste Mann ist, der je gelebt hat. Ein anderer Lehrer wird einen schlagen, wenn man nicht weiß, daß Michael Collins der bedeutendste Mann war, der je gelebt hat.
    Mr. Benson haßt Amerika, und man darf nicht vergessen, Amerika zu hassen, sonst schlägt er einen.
    Mr. O’Dea haßt England, und man darf nicht vergessen, England zu hassen, sonst schlägt er einen.
    Sie alle schlagen einen, wenn man irgendwas Günstiges über Oliver Cromwell sagt.
     
     
    Selbst wenn sie einem mit dem Eschenzweig oder dem Schwarzdorn mit den Knubbeln sechsmal auf jede Hand schlagen, darf man nicht weinen. Es gibt Jungens, die einen vielleicht auf der Straße auslachen und verspotten, aber sie müssen
vorsichtig sein, denn der Tag wird kommen, da schlägt und prügelt der Lehrer sie auch, und dann müssen sie die Tränen hinter den Augen halten, oder sie sind für alle Zeiten blamiert. Manche Jungens sagen, es ist besser, wenn man weint, weil das den Lehrern gefällt. Wenn man nicht weint, hassen einen die Lehrer, weil sie dann vor der Klasse schwach aussehen, und sie schwören sich, beim nächsten Mal gibt es Tränen oder Blut oder beides.
    Große Jungens in der fünften Klasse sagen uns, daß Mr. O’Dea sich gern vor der Klasse aufstellt, so daß er hinter einem stehen kann, und dann zwickt er einem in die Schläfen, zieht sie hoch, sagt, hoch, hoch, bis man auf Zehenspitzen steht und die Augen voller Tränen hat. Man möchte nicht, daß die Jungens in der Klasse sehen, wie man weint, aber beim Schläfenziehen muß man nun mal weinen, ob man will oder nicht, und das mag der Lehrer. Mr. O’Dea ist der einzige Lehrer, dem es immer gelingt, Tränen und Blamage über einen zu bringen.
    Es ist besser, wenn man nicht weint, denn die Lehrer wechseln, aber mit den Schülern bleibt man zusammen, und den Lehrern möchte man auf keinen Fall die Genugtuung gönnen.
    Wenn der Lehrer einen schlägt, hat es gar keinen Sinn, sich bei Vater oder Mutter zu beschweren. Sie werden immer sagen, wenn der Lehrer
dich schlägt, dann hast du’s auch verdient. Stell dich nicht so an.
     
     
    Ich weiß, daß Oliver tot ist, und Malachy weiß, daß Oliver tot ist, aber Eugene ist zu klein, um irgendwas zu wissen. Wenn er morgens aufwacht, sagt er, Ollie, Ollie, und krabbelt im Zimmer herum und sieht unter den Betten nach, oder er klettert auf das Bett am Fenster und zeigt auf Kinder draußen auf der Straße, besonders Kinder, die blond sind, so wie er und Oliver. Ollie, Ollie, sagt er, und Mam hebt ihn auf, schluchzt, umarmt ihn. Er strampelt und will wieder runter, weil er nicht aufgehoben und umarmt werden will. Er will Oliver finden.
    Dad und Mam sagen ihm, Oliver ist im Himmel und spielt mit Engeln, und eines Tages werden wir ihn alle wiedersehen, aber er versteht es nicht, weil er erst zwei ist und noch keine Wörter hat, und das ist das Schlimmste auf der Welt.
    Malachy und ich spielen mit ihm. Wir versuchen, ihn zum Lachen zu bringen. Wir schneiden Grimassen. Wir setzen uns einen Topf auf den Kopf und tun so, als ob wir ihn fallen lassen. Wir nehmen ihn mit in den Volkspark, um die schönen Blumen zu betrachten und mit Hunden zu spielen und uns im Gras zu wälzen.
    Er sieht kleine blonde Kinder wie Oliver. Er
sagt nicht mehr Ollie. Er zeigt nur noch mit dem Finger.
    Dad sagt, Eugene hat Glück, daß er solche Brüder hat wie Malachy und mich, denn wir helfen ihm beim Vergessen, und bald wird er, mit Gottes Hilfe, gar keine Erinnerung an Oliver mehr haben.
     
     
    Er ist dann sowieso gestorben.
    Sechs Monate nach

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