Die Asozialen: Wie Ober- und Unterschicht unser Land ruinieren - und wer davon profitiert (German Edition)
danach für sie selber übrig bleibt, entspricht nur der Höhe des Arbeitslosengeldes.
Es gehört zum selbstverständlichen Alltagswissen in den Unterschichtsquartieren, dass Arbeit sich nicht für jeden lohnt. Das Institut der deutschen Wirtschaft hat berechnet, dass ein zweifacher Familienvater etwa zehn Euro Stundenlohn verdienen muss, um auf Harzt- IV -Niveau zu kommen. Das liegt deutlich über allen Forderungen der Gewerkschaften für einen Mindestlohn. 22
Langzeitarbeitslosigkeit ist das augenfälligste Merkmal der Menschen am unteren Rand der Gesellschaft. Die Begriffe »Hartz- IV -Empfänger« und »Unterschicht« werden häufig sogar synonym benutzt. Zu Unrecht. Viele Menschen haben zwar seit Langem keinen Job, doch sie leben in einer harmonischen Familie. Die Super Nanny oder Peter Zwegat werden nicht gebraucht. Sie haben ihre Gesundheit und ihr Leben im Griff und nehmen Teil am Leben dieser Gesellschaft. Längst nicht alle Hartz- IV -Empfänger gehören zur Unterschicht.
Doch umgekehrt sind die allermeisten Angehörigen der Unterschicht langzeitarbeitslos. Die Arbeitswelt steht nicht im Zentrum des Lebens in Essen-Katernberg oder Berlin-Marzahn. Für weite Teile der Mittelschicht ist der Beruf, mit all seinen Erfordernissen, mehr als reiner Broterwerb. Er ist auch sinnstiftend. Doch nur für die Mittelschicht. Ehrgeiz, Fleiß, Erfolg und vor allem Leistung haben in der Kultur der Unterschicht einen völlig anderen Stellenwert.
Bis vor ein, zwei Generationen galt das Versprechen noch: Wer gesund ist und fleißig, findet einen Platz in unserer Arbeitswelt. Das galt auch für die Männer aus Essen-Katernberg. Sie arbeiteten auf Zollverein, der größten Zeche Europas. Die ungelernten Arbeiter sortierten Steine von den Kohleförderbändern und erledigten einfache Arbeiten. 1986 wurde Zollverein geschlossen und die meisten Katernberger arbeitslos. Dasselbe geschah überall in Deutschland. Die Jobs für Menschen ohne Ausbildung sind weg. Sie kommen nie zurück. Wer nichts gelernt hat, ist in unserer heutigen Wirtschaft überflüssig.
In den Zeiten der Massenarbeitslosigkeit hatten die Ungelernten keine Chance, einen Job zu finden, so lange Millionen gut ausgebildeter Fachkräfte arbeitslos waren. Zuerst wurden sie also aus dem Arbeitsleben ausgeschlossen.
Doch dann haben sie sich auch selbst zurückgezogen. Verständlich. Wer ohne realistische Chance ist auf einen Job, dem kann man nicht vorwerfen, wenn die Verhaltensweisen des Berufslebens sein Denken und seinen Alltag nicht mehr weiter bestimmen. Wozu morgens aufstehen? Wozu lernen? Welche Ziele verfolgen? Welche Leistung erbringen? Arbeit rutschte zuerst aus dem Fokus und schließlich ganz aus dem Blickfeld der Unterschicht.
So entstand eine ganze Lebensform, in der Erwerbsarbeit kaum noch eine Rolle spielt. In der das Erfahrungswissen und die Verhaltensweisen der Arbeitswelt verloren gingen und nun nicht mehr an die nächste Generation weitergegeben werden kann. In der das Geld so selbstverständlich vom Amt kommt wie der Strom aus der Steckdose. In der trickreiches Taktieren in den Versorgungsämtern ökonomisch weitaus lohnender ist als ein Job.
»Lang andauernde Arbeitslosigkeit lässt die Individuen nicht unberührt, vielmehr kann sie zu Verhaltensweisen führen, die die Reintegration in den Arbeitsmarkt verhindern, selbst wenn sie aufgrund der Arbeitsmarktentwicklung wieder möglich wäre.« So fasste es der kürzlich verstorbene Soziologe Hartmut Häußermann zusammen. 23
Die Politik, die Öffentlichkeit, die ganze Gesellschaft hat das Entstehen dieser neuen Lebensform lange Zeit nicht wahrgenommen, ja sogar geleugnet. Weil Arbeitslosigkeit jeden treffen konnte – die Nachbarin, den Verwandten, die gut ausgebildete Facharbeiterin, sogar den Kollegen – entstand der Eindruck: Alle Arbeitslosen könnten und würden arbeiten, wenn man sie nur ließe. Ein Irrtum.
Seit den Arbeitsmarktreformen im Jahre 2005 hat sich die Lage auf dem Arbeitsmarkt dramatisch verbessert. Die Zahl der Arbeitslosen hat sich von knapp fünf Millionen Mitte 2005 auf 2,8 Millionen im Frühsommer 2012 fast halbiert. In weiten Teilen Deutschlands herrscht ein akuter Mangel an Arbeitskräften. Die Bundesagentur für Arbeit hat Vertreter nach Spanien und Griechenland entsandt. Im Arbeitsministerium wird hinter verschlossenen Türen darüber diskutiert, den seit 1973 geltenden »Anwerbestopp« für ausländische Arbeitnehmer aufzuheben.
Der Boom am deutschen Arbeitsmarkt
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