Die Asozialen: Wie Ober- und Unterschicht unser Land ruinieren - und wer davon profitiert (German Edition)
in Deutschland sehr wohl teilgenommen. Das gilt auch für die Regelsätze der Transferzahlungen. Für die ganz besonders:
» In den 70er Jahren betrug der Lohnabstand noch etwa 40 Prozent zu den mittleren Lohngruppen. Heute ist er praktisch nicht mehr vorhanden«, sagt der Fürsorgeexperte Jonathan Fahlbusch vom Deutschen Verein. Wirtschaftliche Armut hat der Sozialstaat schon vor Jahrzehnten endgültig besiegt.
Sönke Simonsen gehört zur ärmsten Gruppe in der Gesellschaft. Für ihn hält der Staat einen Lebensraum von neun Quadratmetern für angemessen: zwei mal viereinhalb Meter, umbaut von dünnen Pappwänden, ein Stuhl, ein Ess-Arbeits-Abstelltisch, eine Schlafpritsche, ein Schrank, sechs Regalbretter. Klo, Dusche und Küche muss Simonsen sich mit seinen 15 Nachbarn teilen. Doch Sönke Simonsen ist kein Sozialfall. Er ist nicht arbeitslos, sondern studiert in Hamburg Maschinenbau. Seine staatliche Unterstützung heißt nicht Hartz IV , sondern BaföG. Er wohnt in einem öffentlichen Studentenwohnheim.
Für Hartz- IV -Empfänger wäre es unzumutbar, hier zu leben. Nach geltender Rechtsprechung würde eine solche Unterbringung den Tatbestand der Verletzung der Menschenwürde erfüllen. Die Sozialgerichte halten für einen Alleinstehenden, der auf Arbeitslosengeld II angewiesen ist, eine Wohnung von etwa 45 Quadratmetern für angemessen. Der Sozialstaat garantiert jedem Bedürftigen eine ordentliche Wohnung. Sogar eine überdurchschnittlich große. Wer vom Amt mit Wohngeld unterstützt wird, wohnt nicht etwa auf weniger, sondern auf zwei Quadratmetern mehr Wohnfläche als der Durchschnitt der Deutschen. Das geht aus dem Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung hervor. 18
Nach Abzug der Miete bleiben dem Student Simonsen noch 350 Euro zum Leben. Das entspricht etwa dem Hartz- IV -Regelsatz. Studierende sind die Gruppe in unserer Gesellschaft mit dem niedrigsten Einkommen, niedriger auch als Arbeitslose. 19 Sönke Simonsen erfüllt alle Kriterien, um als arm zu gelten. Es ist eine offizielle Armut, aber keine gefühlte. »Arm? Was für ein Quatsch!«, sagt der 21-Jährige.
Millionen Studierende leben wie er. Sie leiden kaum unter dem Geldmangel und unter ihren bescheidenen Wohnverhältnissen. In ein, zwei Jahrzehnten werden auch sie wehmütig an die schöne Studienzeit zurückdenken. Wie alle Studentengenerationen vor ihnen. Studenten haben wenig Geld, aber sie haben eine Aufgabe, Status, eine Perspektive für die Zukunft und vor allem Teilhabe – die Chance, am kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Leben der Gesellschaft teilzunehmen.
Der Ausflug an die Universität zeigt, dass in unserer Gesellschaft Armut nicht mehr die entscheidende Dimension der Benachteiligung ist. Ausgeschlossen zu sein, ohne realistische Aussicht darauf, den Anschluss wiederzufinden, das ist weitaus bedrückender. Die soziale Frage ist nicht Geld, sondern Teilhabe.
Die Überwindung der materiellen Armut ist eine wirkliche Erfolgsgeschichte des deutschen Sozialstaates. Daran ändern auch die Debatten über »relative Armut« nichts. Der Missbrauch der »Armut« als politischen Kampfbegriff ist eine Missachtung einer der größten historischen Leistung der Deutschen. Was das Materielle angeht, blickt Deutschland auf eine beispiellose, über 100-jährige Geschichte zurück. Generationen von Wissenschaftlern, Verwaltungsfachleuten und Wohlfahrtsfunktionären haben jeden Winkel des materiellen Bedarfs millimetergenau vermessen, exakt bis auf die einzelne Gurkenscheibe. Doch bei der Teilhabe ist Deutschland ein Entwicklungsland.
Über viele Jahrzehnte war der Kampf gegen die ökonomische Armut notwendig und enorm erfolgreich. Er bewirkte, was man sozialen Fortschritt nannte. Doch irgendwann war die materielle Lücke zwischen Unterschicht und Mittelschicht geschlossen. Bei der Wohnungsgröße haben die Empfänger staatlicher Unterstützung die Steuerzahler bereits überholt. Die Regelsätze beim Arbeitslosengeld II liegen spürbar über dem Einkommen, das in unteren Lohngruppen erzielt werden kann. Weiterer sozialer Fortschritt ist durch die Verbesserung der wirtschaftlichen Lebensumstände kaum noch erreichbar.
Doch weiterer Fortschritt ist notwendig. Dringend. »Einmal unten – immer unten«, ist eine Regel, die ganz besonders in Deutschland gilt. Das hat Reinhard Pollak vom Wissenschaftszentrum Berlin in einer Studie für die Heinrich Böll Stiftung nachgewiesen. 20 Darin zeigt er, dass es in der industrialisierten
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