Die Asozialen: Wie Ober- und Unterschicht unser Land ruinieren - und wer davon profitiert (German Edition)
ist der Lackmustest für das gängige Klischee von den Menschen am unteren Rand der Gesellschaft. Wäre die These zutreffend, dass die Unterschicht am Erwerbsleben in den vergangenen Jahren nicht teilgenommen hat, weil es nicht genügend Jobs gab, dann müsste das Problem Arbeitslosigkeit kurz vor seiner Lösung stehen. Doch die Unternehmen suchen die dringend benötigten Arbeitskräfte ausdrücklich nicht in Berlin-Neukölln und nicht in Köln-Chorweiler. Sie bevorzugen neue Mitarbeiter aus dem europäischen Ausland, obwohl sie für deren Suche, Fortbildung und Integration viel Geld investieren müssen. Viele deutsche Unternehmen haben in der Rekrutierung von Arbeitskräften aus dem europäischen Ausland eine strategische Aufgabe erkannt, die mit über den künftigen Erfolg entscheidet. 24 Die Arbeitsmarktreserven in den Unterschichtsvierteln sind in den Personalabteilungen jedoch kein Thema.
Von der Gesundung am Arbeitsmarkt profitieren auch ausschließlich jene Millionen Arbeitslosen, die bislang, trotz Fleiß und Fähigkeiten, keinen Job gefunden haben. Sie werden jetzt massenhaft eingestellt. Wer bleibt zurück? Wer bleibt in Zeiten des Arbeitskräftemangels heute noch lange ohne Job?
Die größte Gemeinsamkeit der Langzeitarbeitslosen ist mangelnde Bildung. Rund die Hälfte der Menschen, die länger als zwei Jahre nicht erwerbstätig waren, sind Menschen ohne Berufsausbildung. Ihr Anteil hat sich seit 2001 um 20 Prozent erhöht. 25 Ein weiterer Teil der Langzeitarbeitssuchenden sucht offenbar nicht ernsthaft nach einem Ausweg aus der Arbeitslosigkeit. Die Arbeitsagenturen sind für ihre Nachsichtigkeit bekannt. Dennoch ist die »Sanktionsquote« von »Leistungsbeziehern«, die sich drücken wollten, zwischen 2007 und 2011 um 50 Prozent gestiegen. 26
Ulrich Walwei ist Vizedirektor am Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung ( IAB ), dem Forschungsinstitut der Bundesagentur für Arbeit. »Für die Gruppe der heutigen Langzeitarbeitslosen verwenden wir das Bild eines Pfirsichkerns«, sagt Walwei. Das Fruchtfleisch ist inzwischen abgenagt. Um an den harten Kern heranzukommen, wollen die Arbeitsagenturen neue Wege gehen. Das Stichwort heißt »soziale Aktivierung«. In Holland werden Fallmanager zu Coaches ausgebildet, die mit Langzeitarbeitslosen für einen Marathonlauf trainieren. »Über solche Maßnahmen denken wir hier auch nach«, sagt Ulrich Walwei. »Um den Kern der Langzeitarbeitslosen aktivieren zu können, müssen wir in Zukunft immer stärker sozialtherapeutisch arbeiten.«
Bei vielen Arbeitslosen geht es nicht lediglich darum, einen Abschluss nachzuholen oder alte Qualifikationen aufzufrischen. Die Hilfe muss viel tiefer ansetzen. Ziel der Maßnahmen ist Selbstdisziplin, ein Gefühl für Leistung zu entwickeln, Erfolg zu erleben, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen. Die Arbeitsagentur muss der Unterschicht beibringen zu arbeiten.
In der Wandlung der Bundesagentur zu einer Therapieeinrichtung wird ein weiteres Missverständnis deutlich. Noch immer wird die Unterschicht mit den Arbeitern verwechselt. Viele Statistiken führen »Arbeiter« weiterhin als unterste soziale Kategorie. In Diskussionen über benachteiligte Kinder wird gern von »Arbeiterkindern« gesprochen.
All das ist grob falsch. Die stolzen Arbeiter waren nicht nur eine Produktionsgemeinschaft, sondern auch eine Wertegemeinschaft. Fleiß, Verlässlichkeit oder Durchhaltevermögen musste ihnen niemand beibringen. Die heutige Unterschicht erinnert viel mehr an das, was Karl Marx »Lumpenproletariat« nannte. Menschen, die sich gehen ließen. Die nicht fähig waren zu disziplinierter Arbeit. Denen das Zeug zum zuverlässigen stolzen Arbeiter fehlte. »Die Müßiggänger schiebt beiseite!«, heißt es in der deutschen Version der »Internationalen«, dem Kampflied der Arbeiterbewegung. 27
Was einst die »Arbeiterklasse« war, entspricht der heutigen Mittelschicht, der wertschöpfenden Leistungselite der Volkswirtschaft.
Du bist, was du isst
Andrea Thiel hing in der Sofaecke und atmete schwer. Sie war Ende 40, stark übergewichtig und zuckerkrank. »Fünf Mal spritzen muss ich am Tag. Und dann noch der Bluthochdruck. Also körperlich bin ich ein Wrack«, erklärte sie mir. Man musste kein Arzt sein, um zu erkennen, dass sie eine Herausforderung für jedes Gesundheitssystem darstellte.
Gleich hinter Andrea Thiel stapelte sich eine der Erklärungen für ihre vielen Krankheiten. In dem Spalt zwischen Couch und
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