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Die Asozialen: Wie Ober- und Unterschicht unser Land ruinieren - und wer davon profitiert (German Edition)

Die Asozialen: Wie Ober- und Unterschicht unser Land ruinieren - und wer davon profitiert (German Edition)

Titel: Die Asozialen: Wie Ober- und Unterschicht unser Land ruinieren - und wer davon profitiert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Wüllenweber
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mitgerechnet. Ungesundes Verhalten ist insgesamt teurer als gesundes.
    Zu diesem Ergebnis kommt auch der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. »Nach Eliminierung von Einkommens- und Altersunterschieden ist der Anteil von Männern und Frauen mit einer guten bzw. sehr guten Gesundheit in der höchsten im Vergleich zur niedrigsten Bildungsgruppe immer noch um das zwei- bzw. 1,8-fache erhöht.« 33
    Krank machendes Verhalten ist eines der augenfälligsten und am besten nachgewiesenen Merkmale der neuen Unterschicht. Und es ist eine der wichtigsten Ursachen für Arbeitslosigkeit. Ein großer und wachsender Anteil der Langzeitarbeitslosen hat gesundheitliche Beeinträchtigungen, die ihre Chancen am Arbeitsmarkt entscheidend reduzieren oder ganz zunichtemachen. 34
    Du bist, was du übst
    »Los, Jungs, nicht nachlassen, jetzt noch mal beißen!« Auf dem Teltowkanal, mitten in Berlin-Neukölln, tuckerte ein kleines Motorboot, am Steuer der Trainer der Rudergesellschaft Wiking. Vor dem Mund hielt er ein Megaphon und brüllte den Muskelpaketen in dem Vierer ohne Steuermann seine Anweisungen zu. Männerschweiß tropfte ins Boot. Über eine Stunde pullten die vier schon im Grenzbereich. In ihren Ohren rauschte das Blut. Ihre Oberschenkel fühlten sich an, als würden sie gleich platzen. Eine ganz normale Trainingseinheit.
    Seit mehr als 100 Jahren ruderten Jugendliche schon durch Neukölln, Deutschlands berühmtestes Unterschichtsviertel. Die Talente, die im Traditionsverein Wiking für nationale Meistertitel trainierten, kamen aus allen Teilen Berlins an den Teltowkanal. Nur nicht aus Neukölln. Im Vereinsheim erklärte mir Matthias Hermann, der Vorsitzende: »Wir versuchen wirklich alles, um es zu verhindern. Aber wir entwickeln uns zu einem rein bürgerlichen Verein.« Regelmäßig zogen die »Wikinger« darum auf Werbetour durch alle Schulen des Bezirks. Den 11- bis 13-Jährigen zeigten sie Filme und ließen sie auf einem Rudergerät die Kräfte messen. In den Wochen danach kamen tatsächlich ein gutes Dutzend typischer Neuköllner Jungs zum Probetraining. Die meisten waren nach einer Woche wieder weg. Doch eine Handvoll, mitunter auch zwei, hielt ein, zwei Monate durch. »Dann schicken wir sie alle wieder weg«, sagte Hermann.
    Warum? Konnten sie den Mitgliedsbeitrag nicht zahlen? »Das würden wir schon regeln. Nein, daran liegt es nicht«, sagte der Vorsitzende. Er druckste. Was er zu sagen hatte, war ihm selbst unangenehm: »Ich komme immer mehr zu der Überzeugung: Die heutige Unterschicht kann nicht rudern«, sagte Hermann.
    Die überraschende Diagnose des Vereinsvorsitzenden erklärt mehr über die Unterschicht als so manche soziologische Studie: Beim Rudern darf niemand aus der Reihe tanzen. Wenn nur einer im Achter den Rhythmus der Gemeinschaft stört, fallen alle acht ins Wasser. Und wenn einer nicht zum Training erscheint, stehen die anderen untätig auf dem Steg herum. Beim Rudern müssen sich alle unterordnen, zu hundert Prozent, ohne Wenn und Aber. Wer das nicht kann, dem nützen Kraft und Geschicklichkeit wenig. Der kann nicht rudern.
    »Das ist total frustrierend«, sagte Hermann. »Die Jungs wollen, aber die können einfach nicht.« Hin und wieder begegneten die Ruderer auf dem Kanal auch Berufsschiffen. Da muss jeder Handgriff sitzen, da müssen alle Anweisungen befolgt werden. Hermann berichtete von vielen Beinahe-Unfällen, weil die Jungs »nie gelernt haben, sich auch nur zwei Minuten zu kontrollieren. Und mit zwölf oder dreizehn, da kann man das denen auch nicht mehr beibringen. Mensch, die sind noch nicht mal richtig in der Pubertät, und schon ist alles vorbei.«
    Disziplin, Zuverlässigkeit, Leistungsbereitschaft, Pflichtbewusst sein – die oft belächelten Sekundärtugenden entscheiden nicht nur, ob jemand ein guter Sportler ist. Sie bestimmen den Lebensweg eines Menschen maßgeblich mit. Oft teilen sie ein, wer auf welcher Seite des großen Grabens lebt, wer oben und wer unten ist. Wer mehrmals in der Woche trainiert, selbst wenn die Motivation mal im Keller ist. Wer in der Lage ist, Ziele für sich zu definieren und über lange Zeit zu verfolgen. Wer seine Leistung steigert. Wer sich, bei aller Konkurrenz, auf eine Gemeinschaft einstellen kann und dabei jederzeit den Rhythmus und das Gleichgewicht der Gruppe beachtet. Wer, wen n ’s drauf ankommt, Anweisungen eines Steuermannes zuverlässig befolgt. Kurz: Wer rudern kann, gehört nicht zur Unterschicht.
    Keine drei Kilometer

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