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Die Asozialen: Wie Ober- und Unterschicht unser Land ruinieren - und wer davon profitiert (German Edition)

Die Asozialen: Wie Ober- und Unterschicht unser Land ruinieren - und wer davon profitiert (German Edition)

Titel: Die Asozialen: Wie Ober- und Unterschicht unser Land ruinieren - und wer davon profitiert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Wüllenweber
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ist evangelischer Pfarrer und Chef der »Arche« in Berlin-Hellersdorf. Dort finden die Kinder aus dem Viertel, was sie in ihren Familien nicht bekommen: Zuwendung, Erwachsene, die sich mit ihnen beschäftigen, und eine warme Mahlzeit. 1995 gründete Siggelkow die Arche. Heute gibt es Archen bereits in zehn Städten.
    Hin und wieder trafen wir uns zum Mittagessen im Speisesaal im Keller der Arche und tauschten unsere Erfahrungen und Beobachtungen aus der Unterschicht aus. Die Frage nach dem Tanga beschäftigte Siggelkow noch eine ganze Zeit. »Das Leben der Kinder in diesem Viertel ist total sexualisiert«, sagte er. Oft kamen Kinder mit sexuellen Problemen zu ihm. »Gerade gestern erst wieder eine Elfjährige. Die wollte wissen, ob sie noch normal sei, weil sie noch nie Sex hatte.« 41
    Wenn Siggelkow über Eltern sprach, dann über Mütter. »Väter gib t ’s hier nicht.« Auch die Mütter vertrauten ihm ihre Probleme an. Oft klagten sie darüber, dass ihre Kinder sie stören. »Dann frage ich: wobei? Und die antworten: beim Sex.« Siggelkow traf Mütter, die sich entschieden, »mal lesbisch auszuprobieren«. Weil sie es im Porno so schön fanden. Andere konnten nicht verstehen, dass es ihre Kinder verstörte, wenn sie beim Sex mit fremden Männern die Schlafzimmertür offen ließen. Siggelkow berichtete von Müttern, »bei denen Sex das absolute Highlight ihres Lebens« war. Meistens das einzige.
    Auch Thomas Rüth war beunruhigt. Dem Sozialpädagogen aus Essen-Katernberg war irgendwann klar geworden: Da fehlt doch was. Er arbeitete mit 12 oder 13-jährigen Jugendlichen zusammen. Die Kinder waren nicht schüchtern. Sie gingen miteinander. Sie schliefen ganz selbstverständlich miteinander. Aber sie schrieben keine Liebesbriefchen. Sie hielten nie Händchen. Und vor allem: Sie küssten sich nicht. Das war es, was fehlte.
    Regelmäßig saßen Rüth und seine Kollegen in den Wohnstuben der Familien des Stadtteils. Natürlich flimmerten stets die Glotzen. Doch das Programm kam nicht immer vom Privatsender, sondern auch aus dem DVD -Spieler: Pornos. Die Kinder saßen auf dem Sofa und guckten mit. Und guckten ab. Im Porno küsst man sich nicht. »Viele dieser Kinder wachsen im emotionalen Notstandsgebiet auf. Die wissen alles, wirklich alles über sexuelle Praktiken. Aber wenn wir denen etwas über Liebe erzählen, über Zärtlichkeit, dann verstehen die überhaupt nicht, wovon wir reden«, sagte Thomas Rüth.
    In die Beratungsstelle von Karl Wahlen kamen Kinder, die Pornos nachspielten. Sie spielten Gang-Bang oder zwangen sich gegenseitig zum Oralsex auf der Schultoilette. Wahlen betreute Mädchen, die mit irgendwelchen Jungs irgendwo Sex hatten – auf der Tischtennisplatte, dem Kinderspielplatz oder unter einem Balkon des Wohnblocks. Die Freunde der Jungen filmten die Szenen mit ihren Handys und stellen die Filmchen ins Netz. Karl Wahlen leitete die Beratungsstelle des Psychosozialen Dienstes in Neukölln. »Die Konkurrenz, unter der die Mädchen beim Sex stehen, ist massiv«, sagte Wahlen. »Aber bei den Gesprächen hier wird schnell klar, dass die im Inneren spüren, dass ihnen das nicht gut tut. Aber dann sagen sie oft: ›Was habe ich denn sonst?‹«
    Einer der Helden dieser Kinder nennt sich »Frauenarzt«. Vincente de Teba Költerhoff aus Berlin-Tempelhof gilt als der härteste Porno-Rapper Deutschlands. Er ist wegen pornografischer Gewaltdarstellungen vorbestraft. Seine »Songs« sind reine Vergewaltigungsfantasien und beinahe durchweg indiziert. »Die Nutte ist das Fleisch«, brüllt er ins Mikro. »Hey, Nutte, mach die Beine breit!« »Wir ficken dich, bis dir die Lippen brechen.« 42
    Ich traf ihn im Café. »Also, was in meinen Texten vorkommt, da drauf steht doch jede Frau. Je jünger, je mehr. Normal«, behauptete »Frauenarzt«. War das Prahlerei oder kannte er tatsächlich Frauen, die diese Sexualität lebten? »Jede Menge«, sagte er, griff in die Jackentasche, holte das Handy raus und blätterte durch das elektronische Telefonbuch. »Nee, die geht nicht, die ist noch nicht mal 16. Da gib t ’s nur Probleme. Aber hier, die Jessica 43 , die ist schon 19. Die geht.« Das Handy wählte. Jessica kam.
    Sie war klein, fast zart. Artig gab sie mir zur Begrüßung die Hand. »Hallo. Ich bin die mit den zwölfen.« Zwölf? »Na, das ist mein Rekord. Also bis jetzt.« Jessica hatte Sex mit zwölf Männern gleichzeitig. »Und die sind alle gekommen, ehrlich!« Sie war so stolz. Sie war die Jessica mit den

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