Die Asozialen: Wie Ober- und Unterschicht unser Land ruinieren - und wer davon profitiert (German Edition)
zwölfen. Sie war wer.
Jessica wuchs ohne Vater mit ihrer arbeitslosen Mutter auf. Und mit den Pornos der Mutter. »So richtig erlaubt hat sie mir nicht, dass ich mir die angucke. Aber auch nicht verboten.« Jessica war die Erste in ihrer Klasse, die Sex hatte. »Das hab ich natürlich sofort rumerzählt. Das war so cool.« Jessica war arbeitslos und überlegte, was sie mit ihrem Leben anfangen sollte. Die Schule hatte sie abgebrochen. Die erst Lehre auch. Die zweite Lehre auch.
Die Klage über die lockere Sexualmoral ist älter als der Minirock. Doch diesmal warnen keine verklemmten Spießer oder prüden Kirchenmänner. Es sind Lehrer, Sozialpädagogen, Wissenschaftler, Therapeuten und Beamte in Jugendämtern. Was sie aus ihrem Alltag berichten, beschreibt eine sexuelle Revolution. Um freie Liebe geht es dabei jedoch nicht. Mit Freiheit und mit Liebe hat das alles nichts zu tun. Motor für diese Umwälzung der Sexualität sind keine Ideale.
Es ist Pornografie.
Natürlich guckt die gesamte Gesellschaft Pornos, nicht nur die Unterschicht. »Aber die Unterschicht konsumiert mehr Pornos. Oft täglich«, sagt Jakob Pastötter. Er ist Präsident der Deutschen Gesellschaft für sozialwissenschaftliche Sexualforschung und hat am Kinsey-Institut in den USA über Pornografie promoviert. »Man kann die Auswirkungen, die permanenter Pornokonsum vor allem in der Unterschicht hat, überhaupt nicht überschätzen«, sagt Jakob Pastötter. Die Ästhetik, die Sprache, das Verhalten in Pornofilmen – »das alles entwickelt sich zu Rollenvorbildern für die, denen die Vorbilder abhanden gekommen sind.« Jakob Pastötter sagt: »Pornografie wird zur Leitkultur der Unterschicht.«
Dass in der Unterschicht mehr Pornografie geschaut wird und dort auch stärker als Vorbild dient, dafür gibt es keinen eindeutigen wissenschaftlichen Nachweis. »Der Forschungsstand zur Pornografie ist in Deutschland wirklich dünn«, klagt Pastötter. Doch der schichtspezifische Umgang entspricht der Erfahrung vieler Praktiker, die in Kindergärten, Schulen oder sozialen Einrichtungen arbeiten.
Zu ihnen gehört auch Werner Meyer-Deters. In einer Beratungsstelle der Caritas in Bochum betreut er Minderjährige, die nicht Opfer sexueller Gewalt sind, sondern Täter. Die Taten, mit denen der Pädagoge sich auseinandersetzen muss, sind keine Doktorspiele. Es sind ausgewachsene Vergewaltigungen. Und die Täter sind mitunter noch nicht mal in der Pubertät. Jungen vergewaltigen ihre Geschwister, Mitschüler oder Nachbarkinder. Allein oder in der Gruppe. Manche fesseln ihre Opfer, schlagen sie oder missbrauchen sie mit Schraubenziehern. »Viele kommen aus einem Milieu, in dem sie insgesamt verwahrlost aufwachsen. Da ist die sexuelle Verwahrlosung nur ein Aspekt«, sagt Meyer-Deters.
Dem Pädagogen sind in seiner Praxis einige Gemeinsamkeiten aufgefallen bei den Kindern, die er behandelt: 1. »Signifikant ist diese Pornosozialisation, vor allem mit Extrempornos.« 2. »Die meisten haben Eltern, bei denen sie einen absolut entgrenzten Umgang mit Sexualität erfahren haben.« 3. »Die Eltern stammen oft aus den unteren sozialen Milieus.« Nur 30 Prozent der Väter seiner Klienten und nur 10 Prozent der Mütter haben eine abgeschlossene Berufsausbildung.
Wie eng der Zusammenhang zwischen Sexualität und Bildung ist, wird am Beispiel von minderjährigen Mädchen deutlich, die schwanger sind. Einer Studie von Pro Familia zufolge gehen oder gingen 54 Prozent aller schwangeren Mädchen auf eine Hauptschule oder eine Förderschule. 44 Bei einer Studie des Diakonischen Werkes lag das Ergebnis sogar bei 63 Prozent. 45 Insgesamt ist mangelnde Bildung die größte statistische Gemeinsamkeit von schwangeren Minderjährigen in Deutschland. 46
Es ist vor allem die Sexualität der Frauen in der Unterschicht, die sich verändert. Die Männer sind häufig nicht mehr die Ernährer der Familie. Diese Rolle hat fast komplett der Staat übernommen. Das macht es den Partnern leichter, sich zu trennen. Männer und Frauen sind darum immer weniger eine ökonomische Einheit, immer weniger Schicksalsgemeinschaft, immer weniger Lebenspartner. Was sie zusammenbringt und zusammenhält ist fast ausschließlich die Sexualität. Sie bekommt eine neue Wichtigkeit. Insbesondere im Leben vieler Frauen. 47
Wegen ihrer geschlechtsspezifischen Lohnbenachteiligung ist die Chance auf einen Job mit einem Einkommen oberhalb staatlicher Transferzahlungen für Frauen ohne gute Schulbildung und ohne
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