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Die Asozialen: Wie Ober- und Unterschicht unser Land ruinieren - und wer davon profitiert (German Edition)

Die Asozialen: Wie Ober- und Unterschicht unser Land ruinieren - und wer davon profitiert (German Edition)

Titel: Die Asozialen: Wie Ober- und Unterschicht unser Land ruinieren - und wer davon profitiert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Wüllenweber
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Berufsausbildung noch geringer als die für Männern in gleicher Lage. Im Beruf ist es für sie daher besonders schwer, Anerkennung zu erfahren, gelobt zu werden, erfolgreich zu sein. Doch in der Sexualität, da können sie »erfolgreich« sein. Jessica ist in der Schule und der Ausbildung gescheitert. Seitdem sie jedoch »die mit den zwölfen« ist, erfährt sie Anerkennung in ihrer sozialen Umgebung.
    Die Sexualität wird umgedeutet. Sie bekommt eine neue Rolle, eine neue Funktion im Leben. Sex wird das, was für andere der Beruf ist, das Studium, der Sport oder das Spielen eines Instruments – die Möglichkeit, den eigenen Ehrgeiz auszuleben und zu befriedigen. »Das Dumme ist nur: Es klappt nicht«, sagt Thomas Rüth aus Essen. »Wir beobachten das mit Sorge. Viele Frauen leiden wirklich unter dieser Art der Sexualität.« Der Leistungsdruck überfordert sie.
    Du bist, wie du deine Kinder erziehst
    Monika Tietz wurde geliebt. Das machte sie wütend.
    Die vierjährige Chantal liebte Monika Tietz, ihre Ergotherapeutin. Als Chantal nach der Sitzung mit glühendem Gesicht nach Hause ging, goss sich die Therapeutin einen Kaffee ein und erzählte mir von ihrer Wut, dem ständigen Begleiter ihrer 30 Berufsjahre. Wut auf Eltern.
    Der Kindergarten hatte den Kinderarzt alarmiert, weil Chantal in ihrer Entwicklung zurückgeblieben war. Sie konnte sich einfach nicht konzentrieren. Es hatte ein halbes Jahr gedauert, bis man Chantals Mutter zu der Therapie überredet hatte. Die Kosten der Therapie übernahm die Krankenkasse. Doch die Mutter scheute den Aufwand, zwei Mal die Woche einen Termin einzuhalten.
    Die ersten zwei oder drei Therapiestunden nannte Tietz die »Guck-guck-guck-Stunden«. Tietz zeigte den Kindern etwas, die machten es nach und forderten sofort: »Guckguckguck!« Die Kinder waren daran gewöhnt, um jede Sekunde Aufmerksamkeit der Eltern kämpfen zu müssen, in aussichtsloser Konkurrenz zum Fernsehprogramm. Nach zwei, drei Sitzungen mit Tante Moni machte es meistens Klick. Und die Kinder begriffen: Da guckt tatsächlich jemand. Und zwar die ganze Zeit. »Dann lieben einen die Kinder natürlich. Das kann man gar nicht verhindern«, sagte Tietz. Und gleichzeitig wusste sie: Irgendwann ist jede Therapie einmal zu Ende. »Dann sind die Kinder so enttäuscht, so traurig. Das tut weh. Zum Abschied fragen die auch schon mal: Moni, kann man Eltern tauschen?«
    30 Jahre therapierte Monika Tietz die Kinder überforderter Eltern. »In den letzten Jahren ist es wirklich dramatisch schlimmer geworden«, sagte sie. »Viele Eltern kriegen nicht mal mehr die einfachsten Sachen hin.« Beispielsweise waschen. Eine fünfjährige Patientin war völlig isoliert. Die anderen Kinder wollten nicht mit ihr spielen. Das Mädchen vertraute Tante Moni an, der Grund sei, dass sie stinke. »Sie hatte sich nicht getäuscht«, sagte Tietz. Die Ursache war leicht auszumachen: die Strumpfhose des Mädchens. Die Mutter wusch oder wechselte sie nie. Von einem Gespräch mit der Mutter versprachen sich Therapeutin und Patientin exakt nichts. Also änderte Monika Tietz den Therapieplan und brachte dem Mädchen bei, wie man die Strumpfhose im Waschbecken wäscht und nachts auf der Heizung trocknet.
    Monika Tietz hat sich mit ihrer kleinen Praxis gegenüber des Kindergartens und der Schule in der Rathenower Straße in Berlin-Moabit niedergelassen. Das Viertel ist ein regierungsnaher Unterschichts-Kiez, keinen Kilometer entfernt vom Bundeskanzleramt. Rund um den Kindergarten und die Schule ist eine regelrechte Therapielandschaft entstanden: Physiotherapeuten, Ergotherapeuten, Logopäden sowie Kinder- und Jugendpsychotherapeuten. Sie alle sollen die Schäden reparieren, die Eltern angerichtet haben. Von den meisten Disziplinen gibt es gleich mehrere Praxen. Alle sind langfristig ausgebucht.
    Der Erziehungsstil ist eines der stärksten Merkmale sozialer Milieus. Eltern der Mittel- und Oberschicht füllen ihre Bücherregale mit Erziehungsberatern. Mütter und auch Väter beschäftigen sich so intensiv mit ihrem Nachwuchs wie kaum eine Generation zuvor. Sie gestalten den Kinderalltag zu einem ununterbrochenen Strom entwicklungsfördernder Anreize, der zwingend mit einer vorgelesenen Gutenachtgeschichte enden muss.
    Am anderen Ende der Gesellschaft ist die Entwicklung exakt gegenläufig. Erziehungskompetenz und auch die Bemühungen haben in der Unterschicht erkennbar nachgelassen. »Die Unterschicht erzieht ihre Kinder nach der Kartoffelmethode. Die

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