Die Asozialen: Wie Ober- und Unterschicht unser Land ruinieren - und wer davon profitiert (German Edition)
meinen, die wachsen von ganz alleine«, sagt Berthold Werth, Sozialarbeiter der Arbeiterwohlfahrt in Essen. Mit den Folgen der »Kartoffelmethode«, mit dem Zusammenhang zwischen Bildung der Eltern und der Förderung der Kinder haben sich Wissenschaftler intensiv beschäftigt. Ihre Ergebnisse sind eine lückenlose Dokumentation des erzieherischen Notstandes in der Unterschicht:
»Kinder, deren Eltern eine niedrige Schulbildung haben, vereinigen den Großteil unversorgter kariöser Zähne auf sich«, resümiert eine Studie des Robert Koch Institutes. 48 Unterschichtskinder haben also nicht nur häufiger Karies, sie sind fast die Einzigen mit schlechten Zähnen. Die Eltern achten einfach nicht darauf, ob sich die Kinder die Zähne putzen. Das Robert Koch Institut listet einen ganzen Katalog solcher unterschichtstypischer Kinderkrankheiten auf, deren einzige Ursache die Vernachlässigung ist: 49 Übergewicht, Essstörungen, Diabetes, motorische Störungen, häufige Mandelentzündungen und Herpes. 50 Weil ihre Eltern mehr rauchen, leiden Kinder in Marzahn oder Hamburg-Billstedt häufiger an Asthma. »Psychiatrische Auffälligkeiten« sind fast vier Mal so häufig wie bei Gleichaltrigen aus der Mittelschicht. Hinzu kommen Entwicklungsverzögerungen jeder Art und vor allem Sprachstörungen.
Ein Teil dieser Schäden, die überforderte Eltern verursachen, können gemildert werden, wenn sie möglichst früh erkannt werden, zum Beispiel bei Vorsorgeuntersuchungen. Doch ausgerechnet die Eltern, deren Kinder am dringendsten auf frühe Hilfe angewiesen sind, schwänzen besonders häufig die Kindervorsorgeuntersuchungen. 51
Die Forscher des DIW haben nachgewiesen, dass Eltern mit niedriger Bildung, fast alle Angebote ausschlagen, die ihre Kinder fördern könnten – auch wenn sie nichts kosten: Kinderturnen, Musikerziehung für Kleinkinder, Babyschwimmen, all das findet weitgehend ohne die Unterschicht statt. 52
Kinder wie die aus dem Kindergarten Rathenower Straße in Moabit entdecken ihre Umwelt nicht an der Hand ihrer Väter oder Mütter, sondern mit Erzieherinnen. Und das, obwohl ihre Eltern aufgrund von Arbeitslosigkeit über die knappe Ressource Zeit im Überfluss verfügen. Zum Brandenburger Tor kann man von Moabit aus laufen. Doch die meisten Kindergartenkids waren mit ihren Eltern noch nie da. Und nicht am Reichstag, nicht an der Spree, nicht im Tiergarten, nicht im neuen Hauptbahnhof – alles in Spazierentfernung. Der Familienalltag der Kleinen findet in dem Viereck zwischen Kindergarten, Aldi, Imbissbude und Wohnung statt. Anlässe, die Wohnung zu verlassen, sind oft nicht die Bedürfnisse der Kinder, sondern der Biorhythmus von Hunden.
Im Sommer fahren die Erzieher mit den Kindern ab und zu raus in ein Waldstück am Stadtrand. Die Stadtkinder sollen einen richtigen Wald erleben. Abends drücken die Erzieher den Eltern stets einen kopierten Stadtplan in die Hand, auf dem der Weg, den sie genommen haben, genau eingezeichnet ist. Den verdutzten Müttern und Vätern empfehlen sie, die Tour mit den Kindern zu wiederholen. So könnten die Kleinen mal die Großen führen – eine bewährte Übung in jeder Erziehung. Wie viele Eltern machen das? »Das kommt so gut wie nie vor«, sagt Ralf Schnell, der Leiter des Kindergartens.
Noch viel gemeiner als schlechte Zähne, Asthma oder Übergewicht sind die Defizite in der Sprachentwicklung. Die entscheidende Entwicklungsphase, in der die Fähigkeit erlernt wird, mit Sprache umzugehen, liegt weit vor dem ersten Schultag. Mit Sprachdefiziten in die Schule zu starten, ist ein Fehlstart ins Leben. Der entstandene Rückstand lässt sich in den kommenden 80 Jahren nie wieder aufholen. Wer bei Schulbeginn nicht richtig sprechen kann, wird kaum dem Unterricht folgen können, hat nur eine kleine Chance, die Schule erfolgreich abschließen zu können, wird nur mit Lottoglück einen Beruf erlernen können. Für so jemanden hat unsere Volkswirtschaft nur die Rolle als Almosenempfänger vorgesehen. Nicht richtig sprechen zu können, bedeutet für Kinder die absolute Höchststrafe. Das Urteil lautet: lebenslänglich.
Selbst nachdem die Kinder schließlich eingeschult wurden, erwacht das Interesse der Eltern für die Bildung ihres Nachwuchses nicht in jedem Fall. In Problemvierteln sitzen die Lehrer beim Elternabend mitunter ganz alleine im Klassenzimmer. Viele Studien belegen, dass es Eltern aus der Unterschicht nicht lediglich an Kompetenz in Bildungsfragen mangelt. Mitunter sind sie
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