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Die Asozialen: Wie Ober- und Unterschicht unser Land ruinieren - und wer davon profitiert (German Edition)

Die Asozialen: Wie Ober- und Unterschicht unser Land ruinieren - und wer davon profitiert (German Edition)

Titel: Die Asozialen: Wie Ober- und Unterschicht unser Land ruinieren - und wer davon profitiert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Wüllenweber
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gefördert. Einer gleich großen Vergleichsgruppe aus dem Viertel wurde diese Förderung nicht zuteil. Die Probanden aus beiden Gruppen wurden über viele Jahre immer wieder besucht, befragt und intensiv getestet. Bis die ehemaligen Kindergartenkinder schließlich 27 Jahre alt waren.
    Der Unterschied zwischen den beiden Gruppen war größer, als alle Forscher es zu Beginn erwartet hatten: Vier Mal so viele Kindergartenkinder hatten als Erwachsene ein Einkommen von über 2000 Dollar monatlich. 71 Prozent der Geförderten hatten einen Highschoolabschluss gegenüber 54 Prozent der Kontrollgruppe. Die Programmteilnehmer waren bedeutend seltener auf Sozialhilfe angewiesen. Die Kontrollgruppe hingegen verstieß drei Mal öfter gegen Drogengesetze und wurde insgesamt fünf Mal so oft von der Polizei verhaftet, wie die Teilnehmer an dem Förderprogramm. Der Langzeiteffekt der frühkindlichen Erziehung zeigte sich sogar in den Liebesbeziehungen. Fünf Mal mehr Frauen aus dem Kindergarten waren verheiratet und hatten demzufolge erheblich weniger uneheliche Kinder. 69
    Die Zeit in einem gut ausgestatteten Kinderzentrum war für die Kinder von wahrhaft lebensentscheidender Bedeutung: »Die Effekte sind so groß und dauerhaft, dass sie einen bedeutenden Unterschied im Leben von Kindern aus einkommensschwachen Familien machen. Für viele Kinder aus dem Vorschulprogramm geht es um die Frage: scheitern oder bestehen, normale Schule oder Sonderschule, gesetzestreu oder kriminell«, fasst W. Steven Barnett, einer der Wissenschaftler am »HighScope Perry Preschool Project« die Ergebnisse zusammen. 70
    Was in einer amerikanischen Preschool geschieht, heißt auf Englisch »education«. Das schließt sowohl Bildung als auch Erziehung mit ein. Den Satz des Pythagoras begreifen, lernen, wie man sich gesund ernährt, das Einüben von sozialem Verhalten, büffeln, wie lange der Dreißigjährige Krieg gedauert hat und die Bildung der Persönlichkeit – im Englischen ist das alles »education«. In Deutschland wird hingegen streng unterschieden zwischen Bildung und Erziehung. Für Bildung ist der Staat zuständig, die Schule. Erziehung ist das Recht der Eltern.
    In diesem Geist hat das Bundesverfassungsgericht 1998 entschieden, dass Kindergärten nicht zum Bildungsbereich gehören. 71 Der Kindergarten ist eine deutsche Erfindung. Andere Nationen haben mit der Institution auch gleich das deutsche Wort übernommen. Doch in seinem Ursprungsland, in Deutschland, gilt die nach allen Erkenntnissen wichtigste Fördereinrichtung für den Lebensweg eines Menschen nicht als Bildungseinrichtung. Darum ist der Kindergarten – im Gegensatz zur Schule – keine Angelegenheit der Länder, sondern der Kommunen. Darum gehört die frühkindliche Bildung nicht zu den Pflichtaufgaben des Staates. Darum wird in Kindergärten nicht gebildet – das ist Aufgabe der Schule – und auch nicht erzogen – das ist Aufgaben der Eltern –, sondern betreut. Betreuung heißt: warten, bis Mama kommt. Darum gibt es keine verbindlichen Qualitätsstandards für Kindergärten. Darum müssen Kindergartenerzieher in Deutschland nicht studieren, wie es Standard in den allermeisten EU -Ländern ist. Darum ist der Kindergarten nicht kostenlos wie die Schule. Darum gibt es in Deutschland keine Kindergartenpflicht.
    Die allgemeine Schulpflicht wurde von den Preußen eingeführt. Es war ihre größte Leistung im Dienste der sozialen Gerechtigkeit. Davor konnten nur die Kinder der Hochwohlgeborenen lernen, seitdem alle. Die Schulpflicht wird heute von niemandem mehr infrage gestellt. Sie gilt zu Recht als bedeutende Errungenschaft. Auch diese Bildungsinstitution wurde zu einem deutschen Exportschlager. Doch die Schulpflicht beginnt erst mit dem sechsten Lebensjahr. Was die Preußen noch nicht wussten: Die entscheidende Entwicklungsphase, in der ein Mensch das Lernen lernt, beginnt lange vor dem ersten Schultag. Wer in der Schulpflicht eine Verpflichtung des Staates zur Förderung jedes einzelnen Kindes sieht, muss schon aus intellektueller Konsequenz ein Vorziehen dieser Pflicht befürworten. Der Staat muss seine Förderverpflichtung gegenüber seinen Kindern dann wahrnehmen, wenn es die Entwicklung der Kinder erfordert. Das allein ist der Maßstab.
    Aber die Kindergartenpflicht widerspricht der heilen Mittelschichtsvorstellung, die wir uns von der Unterschicht machen. Mittelschichtseltern können ihre Kinder sehr gut selber fördern. Sie singen mit ihnen, kutschieren sie zum Ballett,

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