Die Asozialen: Wie Ober- und Unterschicht unser Land ruinieren - und wer davon profitiert (German Edition)
gibt jemanden, von der erwarten alle, dass sie sich in diesem Dschungel zurechtfindet: die alleinerziehende Mutter Andrea Thiel aus Berlin-Marzahn. Um sie und ihre Kinder kümmern sich Lehrer, Schuldirektoren, ständig wechselnde Fallmanager des Jobcenters, Sozialerbeiter vom Sozialamt, Sozialarbeiter vom Jugendamt, Sozialarbeiter von Beschäftigungsgesellschaften, Sozialarbeiter bei den Anbietern für Ein-Euro-Jobs, Ärzte aller Fachrichtungen, Kinderärzte und Therapeuten aus einem Gesundheitszentrum für übergewichtige Kinder. Der Sozialstaat gibt Vollgas. Doch er bekommt seine PS nicht auf die Straße. Die Räder drehen durch.
Die verschiedenen Institutionen bieten den Bürgern jede nur vorstellbare Hilfe an. Es gibt für jedes Einzelproblem das passende Hilfsangebot. In vielen Familien der Unterschicht geben sich die Sozialarbeiter der konkurrierenden Institutionen die Klinke in die Hand, auch bei den Thiels. Oft praktizieren sie unterschiedliche, mitunter sogar gegensätzliche Methoden der Hilfe. Aber es gibt niemanden, der diese Hilfe koordiniert. Das ist die Aufgabe von Frau Thiel. Das ist es, was der Sozialstaat von ihr erwartet.
Menschen wie Andrea Thiel gelingt es nicht, ihre Wohnung einigermaßen bewohnbar zu halten. Sie schludert mit dem Insulin. Sie hat noch nie einen Terminkalender besessen. Doch der Staat traut ihr zu, aus dem Hilfsangebot unendlich vieler Institutionen genau das Richtige für sich auszuwählen. Und dann die einzelnen Maßnahmen passend aufeinander abzustimmen. Das staatliche Hilfssystem wird nicht von staatlichen Stellen gesteuert, sondern von Menschen wie Frau Thiel. Sie sind die Manager, die Koordinatoren in einem Chaos, bei dem selbst die besten Experten die weiße Fahne ziehen müssen.
Und wieder begegnet uns die völlig unrealistische Vorstellung über den Menschen aus der Unterschicht. Das System der Hilfe ist ausgelegt für selbstbewusste, kompetente Bürger, die sich gut in komplizierten Zusammenhängen zurechtfinden. Die wissen, wie man Anträge schreibt. Die es gewohnt sind, die Zügel in der Hand zu halten. Das deutsche Hilfssystem ist maßgeschneidert für Menschen, die gar keine Hilfe brauchen.
Die Bankrotterklärung des deutschen Sozialstaates
Wieder stehe ich vor dem Plattenbau in Berlin-Marzahn. Jahre sind seit meinem letzten Besuch vergangen. Andrea Thiels Telefonanschluss ist abgeschaltet worden. Ob sie überhaupt noch hier wohnt? Nein, sie ist nicht umgezogen. Der Gestank ist noch da. Noch bevor ich klingeln kann, stürmt eine Gruppe Jugendlicher an mir vorbei und verschwindet in Thiels Wohnung. Zwei erwachsene Männer sprinten hinterher. An der Wohnungstür steht Andrea Thiel. Einer der Männer greift in seine Hosentasche und zieht eine Polizeimarke hervor. »Kriminalpolizei. Sind Sie Frau Thiel?«, fragt er. Sie lacht nur und antwortet: »Mensch, wir kennen uns doch.« Der Beamte war schon mehrmals da. Die Jugendlichen haben im Keller mal wieder mit Drogen hantiert, und Frau Thiel verspricht mal wieder, sich zu kümmern.
Die Pfütze vor dem Badezimmer ist verschwunden. Sonst sieht die Wohnung beinahe unverändert aus. Auf den Krempelbergen in den Kinderzimmern thronen inzwischen flache Bildschirme. Die Kabelstränge, die quer durch die Wohnung verlaufen, sind dicker geworden. Noch immer kann man die Küche nur mit Mühe betreten. Neben der Küchentür steht ein Mikrowellenherd auf dem Fußboden. Ein Teil der Nachbarkinder, die früher nur hin und wieder hier übernachteten, wohnen jetzt fest bei den Thiels. »Das sind Beates Kinder. Die ist zu ihrem neuen Freund nach Spandau gezogen«, erzählt Andrea Thiel.
Yasmin und Florian Thiel sind inzwischen 15 Jahre alt. »Mit Florian läuft alles gut. Er ist halt ein fauler Sack und geht nur drei Mal die Woche in die Schule. Die Lehrer sagen schon gar nix mehr«, berichtet Frau Thiel. Ihr Sohn hört zu, als seine Mutter über ihn spricht, lächelt stolz und fügt hinzu: »Echt jetzt. Die machen absolut nix. Die lassen mich voll in Ruhe.«
Auch mit Yasmin verträgt sich Andrea Thiel inzwischen wieder. Vor ein paar Wochen hatten Mutter und Tochter einen heftigen Streit. Sogar ein Messer war im Spiel. »Es ging mal wieder um Yasmins Verlobten.« Verlobter? »Ja klar. Die wollten heiraten. Der Junge ist ja schon 16«, sagt Andrea Thiel. Inzwischen hat das junge Paar sich aber wieder getrennt. Mutter Thiel ist glücklich.
»Ich war von Anfang an gegen die Hochzeit.« Weil Yasmin viel zu jung ist zum Heiraten?
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