Die Asozialen: Wie Ober- und Unterschicht unser Land ruinieren - und wer davon profitiert (German Edition)
»Nein. Weil das nur Kuddelmuddel gegeben hätte.« Jetzt wird es kompliziert: Der Exverlobte von Yasmin ist der Sohn einer alleinerziehenden Mutter aus Marzahn. Die hat sein einiger Zeit einen neuen Freund. Und der wiederum ist der älteste Sohn von Andrea Thiel aus einer früheren Beziehung. »Dann wäre ja Yasmins Halbbruder ihr Stief-Schwiegervater geworden. Das geht doch nicht«, sagt Andrea Thiel.
Nächste Woche hat sie einen Termin beim Jobcenter. »Die wollen mir wieder irgend so eine Maßnahme aufdrücken. Aber das mach ich nicht. Die sollen sich lieber darum kümmern, dass Florian ein neues Bett bekommt. Das ist nämlich schon lange kaputt.« Genau genommen seit über vier Jahren. Sie hat es also nicht geschafft, einen Antrag zu stellen.
Andrea Thiel ist seit 20 Jahren das, was die deutschen Hilfssysteme eine »Kundin« nennen. Sie wird es für den Rest ihres Lebens bleiben. Längst hat Frau Thiel den Überblick darüber verloren, wie viele Helfer sich darum bemühten, zu verhindern, was dennoch eintreten wird: Florian und Yasmin werden genau so treue und lebenslange »Kunden« werden wie ihre Mutter. Die Familie Thiel ist die Bankrotterklärung des deutschen Sozialstaates.
Genau so sieht das auch Andrea Thiel selbst: »Die kümmern sich ja alle. Aber die kümmern sich immer dran vorbei. Die geben sich ja Mühe. Aber irgendwie lassen die mich auch alle im Stich.«
3 IN THE GHETTOS
Schwarz ist das Gegenteil von weiß. Schnell ist das Gegenteil von langsam. Alt ist das Gegenteil von jung. Aber oben ist nicht das Gegenteil von unten. Jedenfalls nicht in der deutschen Gesellschaft.
Wir haben uns daran gewöhnt, in der Oberschicht und der Unterschicht die größtmöglichen Gegensätze zu sehen. Auf den ersten Blick ist das auch naheliegend: Die einen besitzen viel Geld, hohes Ansehen und wohnen im Villenviertel. Die anderen haben wenig, ein schlechtes Image und leben in Wohnblocks. Solche Unterschiede werden in allen Debatten stets herausgestellt. Dabei erklären die Gemeinsamkeiten zwischen oben und unten deutlich mehr über den Zustand der Gesellschaft.
Seit einigen Jahren werden die Zentrifugalkräfte, die auf die Gesellschaft wirken, immer deutlicher spürbar. Gleichzeitig scheint der innere Zusammenhalt nachzugeben. Die deutsche Gesellschaft befindet sich im Zustand der Auflösung. Und die Teile, die zu allererst aus dem Gefüge herausbrechen, sind Oberschicht und Unterschicht. Das ist ihre große, ihre gefährliche Gemeinsamkeit.
Je nach ideologischer Heimat wird für das Zerbröseln der Gesellschaft entweder Oben oder Unten verantwortlich gemacht. Entweder die Gier des einen Prozents oder der Müßiggang der Empfänger von Sozialtransfers. Doch beim genauen Hinsehen wird deutlich: Nicht entweder oder – sowohl als auch ist die richtige Sichtweise. Die Ränder sind sich erstaunlich ähnlich. In ihrem Verhältnis zur Gesellschaft sind sie einander näher als jeweils der Mittelschicht. Sie verabschieden sich gleichzeitig aus der Gemeinschaft. Die Kerze brennt an zwei Enden.
In Deutschland sind zwei Ghettos entstanden, eines oben und eines unten. Beide Gruppen ziehen sich zurück in ihre jeweiligen Parallelgesellschaften. Und beide entfernen sich immer weiter von der Mehrheitsgesellschaft. Es besteht eine Kontaktsperre zur Mitte. Besonders deutlich wird das bei den Kindern. Haupt- und Förderschule entwickeln sich zu Bildungsstätten fast ausschließlich für die Unterschicht. Die Kinder der Vermögenden bleiben in den Privatschulen unter sich. Ghettoschulen für Ghettokids.
Die Deutschen sind traditionell ein Volk von Vereinsmeiern. Die Vermögenden hingegen bevorzugen den Club, gern einen »exklusiven«, also einen, der die Mehrheit ausschließt. Beliebt ist bei ihnen außerdem die Mitgliedschaft in einem Berufsverband. 1 Auch die Unterschicht meidet das Vereinsleben. Sie ist nirgendwo Mitglied.
Die Kirchen beobachten das Phänomen ebenfalls. Sie verlieren ihre integrative Wirkung auf die Ränder der Gesellschaft und sind fest in den Händen der Mittelschicht. »Wir erleben eine Milieuverengung«, klagt beispielsweise der Hamburger Probst Jan Hinrich Claussen. 2 »Wir merken, dass in unserem Gemeindeleben sozusagen Oben und Unten fehlen. Weder die besonders Begüterten fühlen sich in großer Zahl aufgerufen, an unserem Gemeindeleben teilzunehmen, noch die Menschen, die von Armut betroffen sind.«
Die Nichtmitgliedschaft in Organisationen, in denen das Zusammengehörigkeitsgefühl der
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