Die Asozialen: Wie Ober- und Unterschicht unser Land ruinieren - und wer davon profitiert (German Edition)
Arbeitsmarkt. 8 Jeder von ihnen hat alleine in Deutschland mehr Mitarbeiter als die BASF in der ganzen Welt. Und das ist immerhin der größte Chemiekonzern auf diesem Globus.
Die Zahl der Mitarbeiter ist eine Kenngröße zur Beurteilung einer Branche. Genauso wichtig ist der Umsatz. Und auch hier halten sich die Wohlfahrtsverbände bedeckt. »Die Intransparenz ist in diesem System systembildend«, sagt Iris Röthig. Sie ist Herausgeberin von Wohlfahrt intern, dem Branchenblatt der Hilfsindustrie. »Die Verbände und Unternehmen wollen sich nicht in die Karten schauen lassen.« Ausgerechnet in der Branche mit den meisten Beschäftigten sind wir auf Schätzungen und Daumenpeilungen angewiesen.
Hans-Joachim Puch ist Professor an der Evangelischen Fachhochschule in Nürnberg. Für das Bayerische Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung hat er die Sozialbranche in Bayern untersucht und dabei herausgefunden, dass die Unternehmen pro Mitarbeiter einen Jahresumsatz von etwa 57000 Euro erwirtschaften. 9 Die Zahl darf als repräsentativ gelten, denn auch die Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel, eines der weltweit größten Hilfsunternehmen, geben einen Umsatz pro Mitarbeiter von etwa 57000 Euro an. 10 Hochgerechnet auf ganz Deutschland bedeutet das: Die Hilfsindustrie setzt etwa 115 Milliarden Euro pro Jahr um.
»Ich halte 140 Milliarden für noch wahrscheinlicher«, sagt Helmut Hartmann. Der Gründer und Geschäftsführer des Beratungsunternehmens con_sens analysiert seit eineinhalb Jahrzehnten vor allem die ökonomischen Aspekte des Sozialmarktes. Er gilt als der beste Kenner aller Finanzierungsfragen der Branche, womöglich sogar als der einzige.
Zwischen 115 und 140 Milliarden Euro – solche Beträge können nicht aus Spendengeldern aufgebracht werden. Nach Berechnungen des Deutschen Zentralinstituts für soziale Fragen ( DZI ) haben die Deutschen 2011 insgesamt knapp sechs Milliarden Euro gespendet. 11 Der Deutsche Spendenrat kommt sogar nur auf 4,3 Milliarden. 12 Und die größten »Spendenauslöser« sind stets Katastrophen im Ausland: Erdbeben, Tsunamis, Dürren. Wie auch immer man es rechnet: Spendengelder können allenfalls die Kaffeekassen der Helfer füllen.
Woher kommen also die vielen Milliarden? Vom Staat. Die Helfer werden aus öffentlichen Mitteln bezahlt. Die Pflegeversicherung übernimmt gut 20 Milliarden. Der weitaus größte Teil geht zulasten des Fiskus. Jeder sechste, womöglich sogar jeder fünfte Euro, den Deutschlands Steuerzahler an das Finanzamt überweisen, wird am Ende auf einem Konto eines Wohlfahrtsunternehmens gutgeschrieben.
Mit steil ansteigender Tendenz. Nimmt man die Beschäftigtenzahlen, dann ist die Sozialbranche in den vergangenen 15 Jahren sechs bis sieben Mal schneller gewachsen als die gesamte Wirtschaft. Deutschland erlebt einen beispiellosen Hilfsboom. »Unbekanntes Wirtschaftswunder Sozialbranche« lautete darum auch der Titel eines Kongresses, auf dem sich die Branche im Frühjahr in Berlin selbst feierte.
So ein Wirtschaftswunder bleibt freilich nicht unbemerkt in der Welt des Geldes. Die Deutsche Bank hat längst ein Auge auf das Business geworfen und auch ein Papier zum »Wirtschaftsfaktor Wohlfahrtsverbände« veröffentlicht. 13
»Die Wohlfahrtspflege ist eine enorm wichtige, erstaunlich schnell wachsende und stark unterschätzte Branche«, fasst Dieter Bräuninger von der Deutschen Bank die Ergebnisse der Analyse zusammen.
Auch aus der Sicht von Managern, die an den Umgang mit großen Zahlen gewöhnt sind, erscheinen die Dimensionen der deutschen Hilfslandschaft wahrhaft gigantisch: Allein die großen Wohlfahrtsverbände bieten ihre Dienste in über 100000 »Einrichtungen« an, so werden die Niederlassungen der Sozialunternehmen genannt. Das sind etwa so viele wie alle Metzger, Bäcker, Apotheken und Tankstellen zusammen. Man findet sie in jedem Ort, in jedem Stadtviertel, in jeder Fußgängerzone. Das Diakonische Werk rechnet damit, dass 95 Prozent der Menschen in Deutschland mindestens ein Mal im Leben »Kunden« der Wohlfahrtsverbände werden. Aus Sicht der Sozialunternehmen sind die Deutschen ein Volk von Hilfsbedürftigen. Das unausgesprochene Motto lautet: Viel Hilfe hilft viel.
Die Frage ist nur: Ist das reichste Deutschland in der Geschichte tatsächlich in einem Zustand, der es erfordert, dass Hilfe die größte Branche der Volkswirtschaft ist? Und wächst die Zahl der Hilfsbedürftigen wirklich so rasant wie die der Helfer, wie die gesamte
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