Die Asozialen: Wie Ober- und Unterschicht unser Land ruinieren - und wer davon profitiert (German Edition)

Klasse hat die Kraft verlassen, auf die Veränderung der Gesellschaft organisatorisch zu reagieren. Nicht nur die Kraft, auch den Anspruch. Sie versucht erst gar nicht, das Chaos im Sozialstaat zu ordnen, das eine echte Hilfe für Bedürftige heute verhindert. Sie traut sich den Wechsel von einem nachsorgenden Geldverteilungsstaat zu einem vorsorgenden Sozialstaat nicht zu. Sie hat keinen Plan, ein flächendeckendes System der frühkindlichen Bildung aufzubauen. Sie knickt vor den Interessen der Geldelite ein und unterlässt es, die Reichen angemessen an der Finanzierung des Staates zu beteiligen. Sie wagt es nicht, den Kampf mit der Finanzindustrie aufzunehmen.
    Die Politik will nicht mehr gestalten, sondern verteilen, Geld umverteilen. Sie sitzt im Labyrinth der staatlichen Finanzströme und dreht mal hier mal da an den Stellschräubchen. Ein paar Euro mehr für Harzt- IV -Empfänger, Mehrwertsteuersatz für Hotelübernachtungen runter, Absetzbarkeit von Steuerberaterrechnungen erweitern, Freibeträge und Grenzwerte anpassen. Politiker bedienen die bestehenden Systeme lediglich. Sie konstruieren keine neuen.
    Über viele Generationen war es eine einzigartige Fähigkeit der Deutschen, die Anforderungen der Zeit in neue Organisationen zu übersetzen und daraus funktionierende staatliche Institutionen zu schaffen. Andere Nationen haben Deutschland darum beneidet. Doch diese Fähigkeit scheint verloren gegangen zu sein. Früher waren es die großen Gemeinschaftsinteressen die organisiert wurden, zum Wohle aller. Heute sind es die individuellen Interessen Einzelner, die durchgesetzt werden. Zum Wohle weniger. Und oft zum Nachteil der Mehrheit.
    Die großen organisatorischen Leistungen der Vergangenheit waren getrieben vom Gemeinsinn. Die Institutionen wirkten integrierend auf große Teile der Bevölkerung. Sie haben eine Bewegung hin zur Mitte bewirkt. Die großen organisatorischen Fehlleistungen der Gegenwart wirken wie ein Förderprogramm der Ghettobildung.
    Heute gilt das Primat der Partikularinteressen. Die Politik versucht lediglich, einen Ausgleich gegenteiliger Interessen vorzutäuschen. Ein gemeinsames Interesse zu erkennen und zu stärken, ist kein Staatsziel mehr. Die Politik scheint sich mit der Auflösung der Gesellschaft an den Rädern abgefunden zu haben. Die Parallelgesellschaften werden übersehen, geleugnet und sogar gefördert. Deutschland kapituliert vor Oben und Unten.

TEIL II

4 DIE HILFSINDUSTRIE
    Die Gier der Guten
    Die Wende im Jahre 1989 brachte den Deutschen im Osten Demokratie, Marktwirtschaft und das Hängebauchschwein.
    Sobald die Westmark auch im Osten galt, wurde die Pleite der sozialistischen Volkswirtschaft offensichtlich. Millionen verloren ihre Arbeit. Die Politiker in Bonn entsandten ihre Blauhelmtruppe in das Krisengebiet, als friedenserhaltende Maßnahme: Westbeamte, die in Windeseile die neuen Arbeitsämter aufbauten. Der damalige Arbeitsminister Norbert Blüm setzte auf den flächendeckenden Einsatz von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen ( ABM ). In jedem Kreis der ehemaligen DDR wurde eine Beschäftigungsgesellschaft gegründet, mitunter auch mehrere. Schnell entwickelten sie sich zu den jeweils größten »Arbeitgebern« ihrer Region. Sie hatten meist Tausende Beschäftigte. Aber keine Beschäftigung. Kreativität war gefragt.
    Wer die Idee mit dem Streichelzoo zuerst hatte, ist heute nicht mehr nachvollziehbar. Doch bis Mitte der 90er Jahre eröffnete praktisch jede Beschäftigungsgesellschaft ihren eigenen kleinen Tierpark.
    Hängebauchschweine gehörten bald zur Stammbesatzung jedes Fummelzoos. Das löste eine rege Nachfrage nach den hässlichen Allesfressern aus, die selbst die Züchter des gesamten Kontinents nur mit größter Anstrengung befriedigen konnten. Bald hatte Ostdeutschland die höchste Hängebauchschweindichte außerhalb von Vietnam, der Heimat des Sus scorfa f. domestica.
    Der Aufstieg der Hilfe zur größten Branche der deutschen Volkswirtschaft
    In den 90er Jahren hoppelte ich im Auto viele Tausend Kilometer durch das ABM -Wunderland. In vielen Dörfern standen picobello Buswartehäuschen, so schick wie aus Schöner Wohnen, gebaut von ABM -Truppen. Aber leider musste der Busbetrieb eingespart werden. Zu dem Ensemble am Dorfplatz gehörte meist auch eine auf alt gemachte Handwasserpumpe mit Überdachung im aktuellen Wartehäuschen-Look. Es waren die berühmten »Soda-Pumpen«. Sie waren einfach so da. Wasser kam keines heraus. Verboten. Denn Wasserversorgung ist