Die Asozialen: Wie Ober- und Unterschicht unser Land ruinieren - und wer davon profitiert (German Edition)
über die traurigsten Sachen. Über Michaels Leben. Seine Eltern zeigten ihm bei jeder Gelegenheit, wie gleichgültig er ihnen war. Deswegen wollte Michael von sich aus in eine betreute Wohngruppe ziehen. Kinderheime mit riesigen Schlafsälen gibt es heute nicht mehr.
Michaels ältere Schwester lebte bereits in einer solchen Wohngruppe. Betreiber war jedoch ein anderer Träger. Die Konkurrenz. Seine jüngere Schwester wurde in einer Tagesgruppe betreut, die vom Jugendamt bezahlt wurde. Wieder ein anderer Träger. Zwei Mal im Jahr sprach Guido Braun beim »Hilfeplangespräch« mit dem Sozialarbeiter vom Jugendamt über Michael. Und wie oft sprach er mit den Betreuern von Michaels Schwestern? Nie. »In manchen Familien sind acht, neun, zehn verschiedene Betreuer, die nach verschiedenen Methoden arbeiten, verschiedene Philosophien verfolgen, die nichts voneinander wissen und sich nie absprechen«, klagt Professor Wolfgang Hinte von der Uni Duisburg-Essen.
Theoretisch soll der Case Manager die Arbeit der Träger steuern und kontrollieren. Aber Guido Braun erklärte mir, wie die Wirklichkeit aussieht: »Ich sehe meine Jungs drei, vier Mal die Woche. Das Jugendamt sieht sie nur zwei Mal im Jahr. Da ist es klar, dass die in der Regel auf meine Vorschläge eingehen.«
Die Auftragnehmer sitzen bei diesem Geschäft fast zwangsläufig an einem längeren Hebel als die Auftraggeber im Jugendamt. Wenn ein Familienhelfer wie Braun beim »Hilfeplangespräch« sagt, er habe »kein gutes Gefühl«, wenn die teure Hilfe nicht fortgeführt wird, dann kann kein Case Manager die Maßnahme guten Gewissens abbrechen. Weil er nicht selbst beurteilen kann, ob der Sozialarbeiter die Situation richtig schildert oder nur hinter dem Honorar her ist.
In der ambulanten Familienhilfe laufen die Verträge in der Regel über ein halbes Jahr. Wenn nun aber der Sozialarbeiter nach einem Monat Betreuung der Familie feststellt: Die Krise war nur vorübergehend. Womöglich, weil der gewalttätige Freund der alleinerziehenden Mutter eine Straße weitergezogen ist. Die Hilfe wird nicht mehr gebraucht. Wird der Sozialarbeiter jetzt den Auftrag von sich aus zurückgeben und damit auf die monatlichen Zahlungen verzichten? Oder schlimmer noch: Der prügelnde Freund bleibt und die Mutter hält zu ihm. Die Kinder sollten nun besser aus der Familie geholt und in Sicherheit gebracht werden. Das bedeutet aber Wohngruppe. Das bedeutet anderer Träger. Das bedeutet Auftrag futsch.
In der Realität der Jugendhilfe entscheidet de facto der Auftragnehmer, wie lange der Auftraggeber zahlt. Und das kann lange dauern. »Einige freie Träger geben ihren Mitarbeitern die Anweisung, niemals einen Auftrag zurückzugeben«, sagt Peter Bringewat, Vorsitzender Richter am Landgericht Lüneburg, Juraprofessor und Autor des Standardwerks zu strafrechtlichen Fragen der Jugendhilfe. 19
Allein das Bielefelder Jugendamt arbeitet mit etwa 140 »Leistungserbringern« zusammen. Manche dieser freien Träger haben über 100 Mitarbeiter. Es gibt aber auch Freiberufler, die auf Honorarbasis für diverse Unternehmen arbeiten, als Subunternehmer. Wie in jeder anderen Branche sind auch bei der Jugendhilfe die Anbieter Konkurrenten. Alle kämpfen um Aufträge. Es geht um Arbeitsplätze. Und meistens um viel Geld. Eine ambulante Familienhilfe kostet zwischen 500 und 1000 Euro im Monat und läuft meist über Jahre. Eine stationäre Unterbringung in einem Heim ist etwa so teuer wie in einem guten Hotel, zwischen 120 und 140 Euro am Tag.
Wer entscheidet eigentlich, in welchem Heim ein Kind untergebracht wird? In den meisten Jugendämtern können die Fallmanager solche Aufträge freihändig vergeben, bis zu einer bestimmten Obergrenze. In Bielefeld liegt sie bei 130 Euro Unterbringungskosten pro Tag. Das wissen die Träger in Bielefeld natürlich und verlangen als Tagessatz 128 Euro. So muss der Fallmanager nie seinen Amtsleiter fragen. Eine praktische Lösung. Beim Bauamt würde man sofort Korruption wittern. Schließlich geht es um einen Auftrag von etwa 46000 Euro pro Jahr. Beim Jugendamt kommt niemand auf so abwegige Gedanken.
Die »Leistungserbringer« haben längst erkannt, wer die entscheidenden Stellen sind, an denen sie mit ihren Werbemethoden ansetzen müssen. Darum fluten sie die elektronischen und physischen Briefkästen der Case Manager in den Jugendämtern mit den Werbeprospekten ihrer Einrichtungen und Einladungen zu Fortbildungsveranstaltungen in angenehmer Umgebung. So manche
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