Die Asozialen: Wie Ober- und Unterschicht unser Land ruinieren - und wer davon profitiert (German Edition)
Wohnheimkette unterhält eigene Vertreterbatallione, die sie auf deutschlandweite Rathaustour schicken. Hilfsdesigner starten Marketingoffensiven in Schulen und Kindergärten, wo sie ihre neuesten Entwicklungen präsentieren. Am nächsten Tag bimmeln im Jugendamt die Telefone. Und dran sind Lehrer, die ein Kind in eine teure Maßnahme stecken wollen.
Wachstumsmarkt Behindertenhilfe
Neben der Arbeitslosigkeit und der Kinder- und Jugendhilfe sind Behinderte eine weitere Wachstumsbranche der Hilfsindustrie. Im Sozialstaatsdeutsch heißt die Hilfe für Behinderte »Eingliederungshilfe«. Die Zahl der Empfänger dieser Eingliederungshilfe hat sich zwischen 1994 und 2010 verdoppelt und damit die amtlich registrierten Behinderten. 20 Eine erstaunliche Entwicklung, schließlich stirbt die große Gruppe der Kriegsversehrten in diesen Jahren aus Altersgründen aus. Gottlob kommen keine neuen hinzu. Zudem werden insgesamt weniger Kinder geboren, von denen dank des medizinischen Fortschritts ein immer kleinerer Anteil mit einer Behinderung zur Welt kommt. Gleichzeitig wird das Leben zwischen Geburt und Tod stetig ungefährlicher: Verletzungen durch Verkehrs- oder Arbeitsunfälle sind in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen.
Die Entwicklung der Behindertenzahlen lässt sich davon aber nicht beeindrucken. Sie steigt unaufhörlich, von Jahr zu Jahr. Die vielen zusätzlichen Menschen mit Behinderung lassen nur einen Schluss zu: Die Deutschen degenerieren. Aber nur auf dem Papier. Der Anstieg ist nicht auf eine Veränderung der Volksgesundheit zurückzuführen, sondern auf eine Veränderung der Bewertung. Die Behörden deklarieren heute immer mehr Menschen als behindert, die früher als gesund galten. »Pathologisieren von Bagatellen« nennt das Jonathan Fahlbusch vom Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge.
Wenn man die Abstempelpraxis ernst nimmt, mit der staatliche Stellen Menschen als »behindert« einteilen, muss man sich vor allem Sorgen um die geistige Gesundheit der Deutschen machen: Seit der Wiedervereinigung bekamen in Deutschland 66 Prozent mehr Menschen den Stempel »Lernbehinderung«. In der Kategorie »Psychosen« ist sogar ein Wachstum von 130 Prozent zu verzeichnen. »Neurosen« und »Verhaltenstörungen« diagnostizieren die Ärzte gleich dreieinhalb Mal so häufig wie in den 90er Jahren. 21
Wie willkürlich die Einteilung ist, hat Klaus Klemm, der Altvater der deutschen Bildungsforschung, am Beispiel von Kindern nachgewiesen. 22 Die politisch korrekte Bezeichnung für Behinderung lautet bei Kindern: »besonderer Förderbedarf«. In Mecklenburg-Vorpommern haben 11,7 Prozent einen besonderen Förderbedarf, in Rheinland-Pfalz jedoch nur 4,5 Prozent. 23 Ob es an der Ostseeluft liegt? Selbst innerhalb einer Stadt sind die Unterschiede gewaltig: Im Südwesten von Berlin, im Bezirk Steglitz-Zehlendorf, beträgt die Förderquote 4,4 Prozent. Im Nordosten, in Marzahn-Hellersdorf, sind es 13,2 Prozent.
Wer bei behinderten Kindern an die typischen »Sorgenkinder« im Rollstuhl denkt oder an Kinder, die schlecht sehen oder schlecht hören, liegt ziemlich weit daneben. Alle körperlichen Behinderungen zusammen machen nur rund zehn Prozent aller Kinder mit Förderbedarf aus. Die Krankheitsbilder, die früher als »geistig behindert« zusammengefasst wurden, treffen auf 16 Prozent der Förderfälle zu. Da bleiben also noch fast drei Viertel übrig, die weder »körperbehindert« noch »geistig behindert« sind. Worunter leiden die?
Fast die Hälfte aller Kinder mit Förderbedarf gelten als »lernbehindert«. 24 Diese Form der Behinderung breitet sich wie eine Seuche in Windeseile im ganzen Land aus. Aber nur in diesem. Im Ausland scheint man immun dagegen zu sein. »Lernbehinderung« ist eine Kategorie, die es in dieser Form nur in Deutschland gibt.
Wer sind die rund 210000 Schüler, die weltweit einzigen Menschen mit Lernbehinderung? Es sind nicht die Kinder aus Berlin-Zehlendorf, aus Hamburg-Blankenese oder aus München-Grünwald. Dort lassen es Eltern nicht zu, dass ihre Kinder lebenslang den Stempel »behindert« aufgedrückt bekommen, nur weil sie unter einer Lese- und Rechtschreibschwäche leiden oder weil sie zwei Mal sitzen geblieben sind. Wer kann, klagt sein Kind in eine Regelschule. Eltern in Berlin-Marzahn oder in Hamburg-Wilhelmsburg können das nicht.
Die typischen Lernbehinderten kommen daher vor allem aus der Unterschicht. Der Grund für ihre Schwierigkeiten, dem Unterricht
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