Die Asozialen: Wie Ober- und Unterschicht unser Land ruinieren - und wer davon profitiert (German Edition)
Hilfsindustrie? Also sieben Mal schneller als die Wirtschaft? Kann die Bedürftigkeit mit dem atemberaubenden Wachstum an Hilfsangeboten überhaupt mithalten? Oder ist ein Teil des Booms auf Hängebauchschweine und Rüttler zurückzuführen?
Wachstumsmarkt Kinder- und Jugendhilfe
Häufig wird versucht, die Entwicklung mit der Alterung der Gesellschaft zu erklären. Doch die eigentliche Ursache des Hilfsbooms kann das nicht sein. Noch nicht. Pflegebedürftig sind alte Menschen in aller Regel erst in den letzten Lebensjahren. Ob dies mit Ende 70 oder Ende 80 geschieht, wirkt sich auf die Anzahl Pflegefälle kaum aus. Erst wenn die Babyboomer in dieses Alter kommen, wird die Zahl der Pflegebedürftigen deutlich ansteigen. Doch die Babyboomer sind heute um die 50 Jahre alt.
Das Wirtschaftswunder in der Sozialbranche ereignet sich nicht bei den Alten, sondern bei den Jungen. Die Ausgaben für Erziehungshilfen und Heimunterbringung sind zwischen 2006 und 2010 um exakt ein Drittel gestiegen. 14 Thomas Rauschenbach, Vorsitzender des Deutschen Jugend Instituts ( DJI ) nennt die Kinder- und Jugendhilfe einen »Wachstumsmotor«. »Eine derartige Wachstumsdynamik in nur vier Jahren konnte die Kinder- und Jugendhilfe in ihrer hundertjährigen Geschichte noch nie verzeichnen«, jubelt Rauschenbach. 15 Allein zwischen 2006 und 2010 wuchs die Zahl der Sozialarbeiter, die sich um Kinder und Jugendliche kümmern, um 17 Prozent. In den Heimen wurden mehr als ein Viertel zusätzliche Betreuer eingestellt. Bei den Familienhelfern, die sich ambulant um die Kinder kümmern, betrug der Anstieg sogar 36 Prozent. Das alles in nur vier Jahren. 16
Die allermeisten sind bei »freien Trägern« beschäftigt, bei Vereinen, Wohlfahrtsverbänden, bei Hilfsunternehmen. Im Jugendamt wird die Hilfe nur verwaltet. Diese Konstellation ist kein Resultat der Sparpolitik, sondern Gesetz. Kommunen haben nur dann das Recht, die Hilfe vor Ort mit eigenen Sozialarbeitern zu leisten, wenn keine Vereine oder Firmen die Arbeit erledigen wollen. Denn die sind bei der Kinder- und Jugendhilfe den Mitarbeitern des Staates vorzuziehen. Das bestimmt §4 Abs. 2 des Kinder- und Jugendhilfegesetzes ( SGB VIII ).
Darum wird in den Amtsstuben des Jugendamtes nicht anders gearbeitet als im Einwohnermeldeamt. Eintritt nur, nachdem »Herein!« gerufen wurde. Auf den Fensterbänken röcheln Kaffeemaschinen. Auf den Schreibtischen stehen Familienfotos. Die Sozialarbeiter des Jugendamtes heißen »Case Manager«, Fallmanager. Ihr Handwerkszeug ist die Akte, ihr Arbeitsplatz ist das Rathaus, nicht die Straße. In den Wohnungen der Familien, in den Heimen, dort, wo die betreuten Kinder leben, findet man sie nur selten.
Manfred Neuffer war bis 2009 Professor an der Hochschule für angewandte Wissenschaften in Hamburg ( HAW ). Noch heute ist er ein angesehener Ausbilder für »Case Manger«. Er kennt den Alltag, auf den er seine Studenten vorbereitet: »Die im Jugendamt haben die Klienten fast nie mehr vor Augen«, sagt Neuffer. Georg Ehrmann, der Vorsitzende des Vereins »Kinderhilfe direkt« geht noch weiter: »Ich kenne Jugendämter, in denen gibt es Dienstanweisungen für die Mitarbeiter, das Büro nicht zu verlassen.« In der Realität ist das Jugendamt lediglich die Zahlstelle.
Die wachsende Zahl der Sozialpädagogen, die sich um das Wohl der Kinder kümmern, ist noch kein Hinweis für nachlassende Erziehungsfähigkeiten der deutschen Eltern insgesamt. Die meisten Kinder werden heute bewusster und kompetenter erzogen als die Generation ihrer Eltern. Das gilt jedoch ausdrücklich nicht für bildungsferne Eltern. Überforderung mit den wachsenden Anforderungen der Erziehung ist eines der Merkmale der heutigen Unterschicht. 17 Das enorme Wachstum des Wirtschaftszweigs Kinder- und Jugendhilfe ist also zu einem großen Teil auf das Entstehen der neuen Unterschicht zurückzuführen.
»Die im Jugendamt müssen sich voll auf mich verlassen«, sagte Guido Braun. Ich traf ihn in Bielefeld. Er war ein Sozialarbeiter, der tatsächlich selbst mit Jugendlichen arbeitete. Sein Arbeitgeber waren die »Wohngemeinschaften«, ein hochprofessionell geführter Verein in Bielefeld, der 53 Sozialpädagogen beschäftigte. Braun betreute fast ausschließlich Jungs in der Pubertät.
Gleich nach Schulschluss kam Michael 18 , ein 14-jähriger Junge. Guido Brauns Büro war ein Apartment in der Bielefelder Innenstadt. Er und Michael standen in der Küche, kochten Nudeln und redeten ganz nebenbei
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