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DIE ASSASSINE

DIE ASSASSINE

Titel: DIE ASSASSINE Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joshua Palmatier
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verschwamm.Gebäude und Menschen verblassten, wurden grau. Die Männer und Frauen, die ich als mögliche Bedrohungen eingeschätzt hatte, verwandelten sich in rote Schlieren wie Blutspritzer vor dem grauen Hintergrund und bewegten sich so durch den Fluss der Straße. Immer wieder aufs Neue richtete ich meine Aufmerksamkeit auf bestimmte Leute, die sich daraufhin aus dem Grau lösten und scharf umrissen und deutlich hervortraten, sodass ich sie beobachten und einschätzen konnte. Beiläufige Blicke holten weitere Personen aus dem Grau hervor und ließen sie und ihr Tun vorübergehend in den Mittelpunkt rücken, bis ich das Interesse verlor, wenn ich feststellte, dass diese Leute nichts bei sich trugen, was ich essen konnte oder was ich haben wollte, worauf auch sie wieder im Grau versanken.
    Auch die Geräusche der Straße verschwammen: Stimmen, Schritte, raschelnde Kleider – alles vermengte sich zu einem einzigen Laut gleich einem sanften Wind, der in meinen Ohren säuselte. Dann und wann stachen bedrohliche Laute aus dem Rauschen hervor und erregten meine Aufmerksamkeit, bis ich mich vergewissert hatte, dass keine Gefahr drohte, woraufhin die Geräusche wieder mit dem Säuseln und Rauschen verschmolzen.
    Mit einem Seufzen tauchte ich ein in die Welt aus Gräue, Röte und Wind, eine Welt, die mir geholfen hatte, all die Jahre zu überleben, und hielt Ausschau nach meiner nächsten Beute.
    Eine Stunde vor Anbruch der Abenddämmerung lehnte ich mich mit einem Apfel in der Hand gegen die Gassenmauer. Die Frau hatte nicht einmal bemerkt, dass der Apfel fehlte. Sie hatte ihn auf den Rand ihres Karrens gelegt, um den Sack aufzuheben, den sie fallen gelassen hatte. Ich brauchte nur die Hand nach dem Apfel auszustrecken und ihn zu nehmen. Es war nicht viel, nicht für die Arbeit eines ganzen Tages. Aber die Schmerzen in meiner Brust hatten mich davon abgehalten, größere Risiken einzugehen, und immerhin hatte ich noch die Kartoffeln in meinem Unterschlupf.
    Ich hatte mich gerade abgewandt, um in meinen Verschlag zurückzukehren, als ich den Gardisten zu sehen vermeinte. Es war eine unscheinbare Bewegung dreißig Schritte weiter unten auf dem Siel. Als hätte er sich von der Ecke eines Gebäudes abgestoßen, an dem er gelehnt hatte, und wäre um die Ecke gebogen. Alles, was ich mit Sicherheit sah, war der undeutliche Schemen eines Mannes, der mit dem Rücken zu mir hinter der Lehmziegelwand in der Dunkelheit einer Gasse verschwand.
    Eine beiläufige Bewegung. Trotzdem jagte sie mir ein Kribbeln über die Arme.
    Ich zögerte, beobachtete die schmale Gasse weiter unten am Siel. Doch niemand trat aus der Einmündung hervor und kam zurück, und so drehte ich mich schließlich um und begab mich in den Irrgarten jenseits der Straße, ließ die Welt aus Grau und Rot und Wind fortgleiten und schüttelte auch die Gedanken an den Gardisten ab.
    Doch irgendetwas hatte sich verändert.
    Als ich mir den Weg zurück zu meinem Unterschlupf bahnte, starrte ich auf den Apfel und runzelte die Stirn. Der Apfel sah schmackhaft aus. Kaum Schorf, größtenteils reif, eine kleine Delle an einer Seite, die braun geworden war und faulte. Trotzdem ein guter Apfel. Eigentlich sollte ich mit einem Hochgefühl zurück zu meinem Unterschlupf rennen, mich dort gegen die hintere Mauer kauern und den Körper schützend über den Apfel beugen, während ich ihn verschlang. Aber ich empfand kein Hochgefühl. Ich empfand gar nichts. Mein Magen war seltsam leer, aber nicht vor Hunger, sondern vor … nichts.
    Mitten in einer dunklen Gasse verlangsamte ich die Schritte und blieb stehen. Draußen war es noch hell – weiter vorne schien die Sonne –, aber hier herrschte nur Dunkelheit, allumfassend wie ein erstickendes Tuch. Ich stand inmitten der Finsternis und starrte auf den Apfel. Der Lohn für die Arbeit eines ganzen Tages.
    Wann hatte dieses hohle Gefühl im Magen eingesetzt? Nachdemich den Mann getötet und mit dem Gardisten gesprochen hatte?
    Nein. Dieses hohle Gefühl war immer da gewesen. Ich hatte ihm nur nie Beachtung geschenkt.
    Jetzt aber …
    Immer noch starrte ich auf den Apfel, als jemand sagte: »Gib ihn her.«
    Die Stimme, ein trockenes Krächzen, klang rau und gewaltbereit. Doch ich zuckte nicht einmal zusammen. Stattdessen spähte ich mit zusammengekniffenen Augen in die Dunkelheit und erblickte eine Gestalt, die sich an eine Wand drückte. Beinahe sofort erkannte ich, dass es sich um eine Frau handelte, die auf den Fersen kauerte, den

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