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DIE ASSASSINE

DIE ASSASSINE

Titel: DIE ASSASSINE Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joshua Palmatier
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Körper dick in Lumpen gehüllt. Das Haar hing ihr in verfilzten Strähnen ins Gesicht. Die Haut war so runzlig und dreckverschmiert, dass sie wie trockener Schlamm wirkte. Ein ungesundes Gelb lag in ihren Augen, dennoch leuchteten sie voller Leben und hatten sich auf mich geheftet.
    Auf den Apfel.
    »Gib mir den Apfel, Miststück.«
    Ich hatte sie schon öfter gesehen, jedes Mal zusammengekauert in irgendeiner Nische, einem Winkel, und jedes Mal in Dunkelheit. Ein keuchender Berg von Lumpen, der von einem Ort zum nächsten schlurfte. Ich kannte sie.
    Nun aber, als ich in die schwarzen Pupillen im kränklichgelblichen Weiß ihrer Augen blickte, sah ich sie zum ersten Mal richtig. Und das hohle Gefühl in meinem Magen nahm plötzlich – und sehr lebendig – Gestalt an.
    Ich erkannte die Augen.
    Es waren meine.
    Ich rannte los, flüchtete aus der Gasse ins Sonnenlicht, während die Frau, die ich werden würde, hinter mir kreischte: »Gib ihn mir! Gib ihn mir, Miststück!« Ich rannte zu meinem Unterschlupf, kauerte mich gegen die hintere Wand und weinte heiße,bittere Tränen, die das hohle Gefühl in mir weiter anschwellen ließen. Ich weinte, bis meine Arme und Beine schmerzten und taub wurden, bis das Schluchzen in ein stockendes Husten überging. Durch die schmale Öffnung meines Unterschlupfs beobachtete ich das Sonnenlicht und versuchte, an gar nichts zu denken – was damit endete, dass ich an alles Mögliche dachte: an Tauber; an die fünf Jahre, die ich bereits auf mich allein gestellt war; an die Frau mit den Kartoffeln, die tot in der Gasse gelegen hatte, erdrosselt von dem Mann, den ich getötet hatte. Ein Zittern durchlief meine Arme, ließ meine Schultern beben. Ab und an brannten mir aus keinem ersichtlichen Grund Tränen in den Augen, und ich kniff sie fest zusammen, während das dunkle, hohle Gefühl in meiner Brust wütete. Dann riss ich mich zusammen und kämpfte dagegen an, bis mein Körper sich entspannte, während das Licht draußen allmählich schwand und mir klar wurde, was ich tun musste.
    Ich mied die dunkle Gasse, in der ich die Lumpenfrau gesehen hatte, und umging sie in weitem Bogen. Irgendwie wirkten die Tiefen jenseits des Siels düsterer und schmutziger als sonst. Ein Junge von höchstens sieben Jahren wühlte sich durch einen Berg von Unrat vor einer Türnische. Er war so tief im Müll vergraben, dass ich ihn gar nicht bemerkt hätte, hätte der Haufen sich nicht plötzlich aufgebäumt. Der Junge stolperte davon. Matsch verschmierte sein Gesicht, die Beine und Arme. In einer Hand hielt er einen verbogenen Löffel wie ein Messer. Als er mich erblickte, sank er knurrend wie ein Hund auf ein Knie, ehe er in die Schatten huschte, wobei der Kadaver einer Ratte in seiner Hand baumelte, der wild vor- und zurückschwang, als er davonrannte.
    Das war ich, die ich mich knurrend durch Müll wühlte.
    Abermals zog sich meine Brust zusammen, aber ich drängte das Gefühl zurück und bewegte mich schneller. Das Licht ging allmählich in die Abenddämmerung über. Mir blieb nicht mehr viel Zeit.
    Ich arbeitete mich den Siel hinauf, hielt mich dicht an denWänden, den Gassen. Unterwegs beobachtete ich die Leute und wurde mir plötzlich meiner Kleider bewusst … Nein, nicht meiner Kleider. Je weiter ich vordrang, desto offensichtlicher wurde, dass ich nur Dreck und Unrat am Leib trug, den Siel selbst, der wie Flechten meinen Körper bedeckte. Ich fühlte, wie ich schrumpfte, und zog mich in mich selbst zurück, hielt zweimal inne und wollte umkehren – einmal, als mich eine Frau mit unverhohlenem Entsetzen und Ekel anstarrte, und ein zweites Mal, als ein Junge mir vor die Füße spuckte und laut auflachte, als ich zurücksprang und mich duckte.
    Er hätte nicht so laut gelacht, hätte er gewusst, dass meine Hand unter den Lumpen einen Dolch umklammert hielt.
    Ich kämpfte mich weiter, bis ich in der Dunkelheit einer Gasse kauerte, von der aus man den Brunnen sehen konnte. Auf dem Brunnen stand das bröckelnde steinerne Bildnis einer Frau. Einen Arm hielt sie erhoben, um eine Urne auf der Schulter zu halten. Der andere Arm war einst in die Hüfte gestemmt gewesen, war jedoch vor Jahren abgebrochen, sodass nur noch ein schartiges Stück aus der Schulter ragte, während an der Hüfte nur die Fingerspitzen verblieben waren. Einst hatte sich aus der Urne Wasser in das Becken ergossen; nun aber war es leer bis auf dunkle Schimmelflecken. An der Öffnung der Urne waren noch die Wasserrückstände

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