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DIE ASSASSINE

DIE ASSASSINE

Titel: DIE ASSASSINE Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joshua Palmatier
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heruntergekommenen Totschläger Jagd auf diese Frau gemacht und ich mich geweigert hatte, ihnen zu folgen.
    Ich runzelte die Stirn. Seit jener Nacht hatte ich nicht mehr an Tauber gedacht und versucht, den Nachhall der Ohrfeige zu vergessen, die er mir verpasst hatte, als ich ihm erklärte, dass ich ihm nicht helfen würde, die Frau zu fangen. Ich hatte gewusst, dass Tauber sie nicht bloß ausrauben, sondern töten wollte. Ich hatte es in seinen Augen gesehen.
    Meine Miene verdüsterte sich. Damals war ich zu der Einsicht gelangt, dass Tauber seinen Zweck in meinem Leben erfüllt hatte. Er hatte mir genug beigebracht, dass ich allein überleben konnte.
    Ich hatte damals niemanden mehr gebraucht, und ich brauchte auch jetzt niemanden.
    Das heißt … außer dem mehlweißen Mann, versteht sich. Ihn brauchte ich, auf ihn verließ ich mich hin und wieder. Aber das war etwas anderes.
    Mit schmerzverzerrtem Gesicht erhob ich mich und kroch durch die schmale Öffnung meines Unterschlupfs hinaus ins Sonnenlicht. Der Gardist und sein Angebot waren vergessen. Ich musste auf die Jagd, denn die Kartoffeln würden nicht ewig reichen.
    Der Siel war die einzige echte Straße in den Elendsvierteln von Amenkor. Er verlief aus ihren Tiefen geradewegs über den Fluss und in die Oberstadt auf der gegenüber liegenden Seite des Hafens. Der Siel stellte zugleich die Grenze zwischen der eigentlichen Stadt und den Elendsvierteln des Abschaums dar, der jenseits des Siels hauste – das niedere Volk, zu dem auch ich gehörte, der Bodensatz, der letzte Dreck. Ich war vierzehn, und der Siel bezeichnete noch immer Grenze und Zentrum meiner Welt. Noch nie war ich den Siel hinaufgegangen, das aufgebrochene Kopfsteinpflaster entlang, vorbei an den Tavernen und Läden an der Straße, über die Brücke, die den Fluss kreuzte, und hinein nach Amenkor selbst. Ich lauerte dem Volk des Siels auf, dem Abschaum dieser Stadt; jenen Menschen, die harten Zeiten zum Opfer gefallen waren und die ein ungnädiges Schicksal gezwungen hatte, die wahre Stadt aufzugeben und auf der anderen Seite des Hafens Zuflucht zu suchen.
    Und der Sucher hatte recht gehabt: Seit dem Feuer vor drei Jahren war die Zahl der Menschen in den Elendsvierteln angeschwollen. Nicht nur durch Zuwanderer aus der eigentlichen Stadt, auch durch andere, die gar nicht aus Amenkor stammten. Menschen, die sich seltsam kleideten, deren Haare oder Augen ungewohnte Farben zeigten, die merkwürdige Waffen trugen und mit Akzent sprachen. Manche redeten sogar mit völlig fremder Zunge. Aber diese Leute waren rar.
    Nun spähte ich aus der Dunkelheit der Elendsviertel ins Licht, tief geduckt, Lehmziegel im Rücken. Auf der Straßewimmelte es von Männern und Frauen. Ich beobachtete sie alle, schaute in ihre Gesichter, warf prüfende Blicke auf ihre Kleidung. Ich sah einen Mann in zerlumpten Gewändern, der einen Dolch am Gürtel trug. Doch aus seinen Augen sprach keine Gefahr – sie wirkten hart, aber nicht grausam. Sonst hatte der Mann nichts von Interesse bei sich, und so verschwand er aus meiner Wahrnehmung, wurde zu einem dunkleren Schemen vor dem stumpfen Grau der Welt. Zwar behielt ich ihn unbewusst im Auge, wie alle anderen auch, doch er war nicht mehr von Bedeutung für mich. Er war keine Beute und keine Bedrohung; deshalb war er grau.
    Da, ein Aufblitzen feiner Kleider. Meine Augen schwenkten herum. Nein, keine richtig feinen Kleider – ausgefranste Ränder, ein Riss an einer Seite des grauen Saums, fleckige Hose, ölverschmiert –, aber besser als die meisten. Der Besitzer trug Stiefel mit einer an der Ferse losen Sohle. Bei jedem Schritt waren die Nägel zu sehen. Auch dieser Mann trug einen Dolch, wenngleich verborgen; seine Hand ruhte auf der Ausbuchtung der Scheide an seiner Seite. Er ging mit raschen, steifen Schritten, und seine Augen …
    Doch er bog ab, ehe ich ihm in die Augen blicken konnte. Das zerrissene Hemd und die lose Sohle verschwanden durch eine Tür.
    Der Mann verblasste.
    Grau.
    Ich ließ mich neben der Mauer nieder, zuckte abermals zusammen, als der Schmerz durch meine Brust raste, und ließ die Strömungen des Siels an mir vorüberziehen. Als die Schmerzen nachließen, widmete ich mich wieder den Menschen, kniff mit geballter Aufmerksamkeit die Augen zusammen und spürte tief in mir ein vertrautes Gefühl.
    Mit einer sanften, inneren Bewegung gleich dem Entspannen eines Muskels breitete dieses Gefühl sich aus.
    Die Welt fiel in sich zusammen, verlangsamte sich,

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