Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
DIE ASSASSINE

DIE ASSASSINE

Titel: DIE ASSASSINE Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joshua Palmatier
Vom Netzwerk:
hatte; dasselbe Etwas, das sich enttäuscht zurückgezogen hatte. Erick konnte es nicht sehen. Nicht in dieser Dunkelheit. Nicht hinter dem Vorhang aus verfilztem Haar, der mir ins Gesicht hing.
    Erick lehnte sich auf die Fersen zurück. »Spielt keine Rolle, kleine Varis .« Er stockte. Als er fortfuhr, hörte ich Belustigung in seiner Stimme. » Varis . Weißt du, was das bedeutet?«
    Ohne aufzuschauen, schüttelte ich den Kopf.
    »Es bedeutet Jägerin.« Er kicherte leise. »Ich finde, das passt. Meinst du nicht auch?«
    Ich hob den Kopf gerade so viel, dass ich ihn sehen konnte, und nickte.
    Er lächelte. »Gut.«
    Schließlich erhob er sich und ging die Gasse hinab. Nicht schnell, aber mit stetigen Schritten.
    Ich sah ihm nach, bis die Schatten ihn verschluckten. Dann umklammerte ich die Öffnung des Sacks mit den Orangen.
    Varis . Jägerin.
    Ich begann zu schluchzen.
    Ich hatte wieder einen Namen.

    Am Tag darauf hatte das Treiben auf den Straßen sich verändert. Nicht, dass irgendetwas anders geworden wäre – ich selbst war anders. Ich hielt nicht mehr Ausschau nach einem kurzzeitig vergessenen Korb, einem herrenlosen Stück Brot oder anderer möglicher Beute. Stattdessen achtete ich nun auf die Gesichter der Leute.
    An die Wand einer Gasse gelehnt, schob ich mich weiter, umin den Schatten zu bleiben, als die Sonne aufging. Prüfend ließ ich den Blick über jedes Gesicht wandern, schaute mir die Augen, das Haar und die Nasen an. Narben und Male, Hängebacken und Schorfe – alles nahm eine neue Bedeutung an.
    Gegen Mittag – die Sonne stand so hoch, dass es keine Schatten mehr gab – knurrte mir der Magen, und mir wurde klar, dass ich den ganzen Vormittag damit verbracht hatte, Ausschau nach dem falkengesichtigen Mann zu halten, den zu suchen Erick mich aufgefordert hatte. Die anfängliche Begeisterung war verflogen, und mit einem seltsamen Gefühl der Enttäuschung richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder auf mögliche Beute. Ich verfiel so nahtlos in das alte Verhaltensmuster, wie das Sonnenlicht in die Abenddämmerung übergeht.
    Am Ende des vierten Tages suchte ich nicht mehr nach dem Falkengesicht. Die Orangen waren aufgegessen, ebenso die Kartoffeln. Den Gardisten hatte ich nie auf dem Siel gesehen, und ich wagte nicht, zum Brunnen zurückzugehen und nach mehr Essen zu fragen.
    Zehn Tage später sah ich den Mann.
    Wolken trieben über den Himmel und warfen unregelmäßige graue Schatten über den Siel, wenn sie vor der Sonne vorüberzogen. Ich stand an der Mündung einer Gasse, die Augen zu Schlitzen verengt, und beobachtete eine Frau auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Sie feilschte mit einem Mann, der einen Handkarren zog, welcher mit Kohl beladen war.
    Die Frau hatte ihren Sack auf den Boden gestellt.
    Ich schaute mich um. Auf dem Siel wimmelte es von Menschen. Das Wetter war mild für den Hochsommer, und die Leute bewegten sich mit beschwingten Schritten. Die meisten lächelten.
    Ich hatte mich gerade von der Wand abgestoßen und steuerte auf die Frau und den Mann mit dem Handkarren zu, als eine merkwürdige Bewegung mich innehalten ließ. Sie war so unscheinbar wie die Veränderung des Lichts, wenn eine Wolke vorüberzog, doch sie harmonierte nicht mit dem Takt der Straße.
    Ich runzelte die Stirn und ließ die normale Welt in jene aus Grau und Rot und Wind gleiten. Gleich darauf nahm ich die Bewegung erneut war, näher diesmal. Dann sah ich den roten Fleck unter dem Grau.
    Der Schemen nahm Gestalt an. Es war ein Junge an der Schwelle zum Mann.
    Meine Miene verfinsterte sich, und ich knurrte wie ein Hund, der einen ungebetenen Artgenossen in seinem Revier witterte, während ich mich in eine bessere Position begab. Meine Hand zuckte zu meinem Dolch. Zum ersten Mal hatte ich diesen Jungen unmittelbar nach dem Feuer gesehen, und seither viele Male wieder – zu viele Male. Strähniges, braunes Haar, bösartige Augen, schmaler Mund. Ein Muttermal, das wie ein Blutspritzer an einem Augenwinkel aussah, verunstaltete das glatte, sonnengebräunte Gesicht. Er trug Kleidung wie ich: verfilzt, zerrissen, besudelt vom Siel.
    Abschaum, wie ich. Konkurrenz.
    Und er hatte die Frau im Auge, die den Mann mit dem Handkarren anschrie. Meine Beute.
    Zorn loderte in mir auf, so heiß wie Feuer und so bitter wie Galle. Meine Nackenhaare richteten sich auf.
    Ohne nachzudenken, drängte ich mich durch die Menge, richtete mein Augenmerk auf die Frau und den Mann mit dem Karren. Im Gehen spürte ich, wie der

Weitere Kostenlose Bücher