Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
DIE ASSASSINE

DIE ASSASSINE

Titel: DIE ASSASSINE Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joshua Palmatier
Vom Netzwerk:
stellte die Laterne behutsam auf einem Regal ab, dann klopfte er leise an die Tür.
    Sie öffnete sich, und Licht strömte in den vorwiegend dunklen Tunnel. Ich blinzelte die plötzliche Helligkeit fort und erblickte einen knienden Palastgardisten, der die Tür aufhielt. Über ihm stand der Oberhofmarschall der Regentin.
    »Willkommen im Palast«, begrüßte er uns.
    Dann beugte sich ein weiterer Gardist mit ausgestreckter Hand in den Tunnel herab, um uns hinaufzuhelfen.

    »Wir haben diese Gänge jahrelang nicht benutzt«, sagte Oberhofmarschall Avrell, wie zu sich selbst.
    Wir waren von dem kleinen Raum, in dem wir angekommen waren, durch ein paar kurze, von breiten Ölschalen erhellte Gänge in eine kahle Kammer gelangt, in dem Holzstühle und ein Tisch standen. Der Raum war staubig, und die Wände waren vom Ruß alter Fackeln geschwärzt.
    Ich kauerte mich in einer Ecke auf die Fersen und beobachtete stumm Borund und den Oberhofmarschall. Die Wachen hatten draußen Stellung bezogen; der Dockjunge hatte sich auf dem Weg hierher von der Gruppe getrennt. Sonst hatte ich nur noch eine weiß gekleidete Frau gesehen, die Essen und Wein gebracht hatte. Eine der Dienerinnen der Regentin. Sie hatte gelächelt, als sie den Teller mit Brot und Käse auf den Tisch gestellt hatte, aber das Lächeln war verblasst, als sie sich Avrell zuwandte und ihm ernst zunickte, ehe sie wieder ging.
    Avrells Mund hatte eine verkniffene Linie gebildet … Und mir hatte er betont auffällig keinerlei Beachtung geschenkt.
    »Warum wird der Hafen geschlossen?«, fragte Borund knapp. »Wer hat das angeordnet?«
    Der Oberhofmarschall seufzte und deutete auf einen Stuhl. »Die Regentin persönlich hat es befohlen.«
    »Was? Aber wieso?« Verwirrt schüttelte Borund den Kopf. »Das ergibt keinen Sinn.«
    »Das ist wohl wahr«, erwiderte der Oberhofmarschall.
    Borund brauchte einen Augenblick, um all die Andeutungen zu begreifen, die der Oberhofmarschall in seine Stimme gelegt hatte; dann lehnte er sich auf dem Stuhl zurück. Das Holz knarrte laut in der lastenden Stille.
    »Also stimmen die Gerüchte«, murmelte er schließlich. Es war keine Frage.
    Der Oberhofmarschall nickte. »Ich war mir nicht sicher, kannsogar jetzt noch nicht sicher sein. Die Regentin verhält sich seit dem Feuer launenhaft, was unter den gegebenen Umständen ja auch kein Wunder ist. Aber in letzter Zeit …« Er seufzte und ging zu einem Stuhl. »Den Geisterthron zu besänftigen ist nicht so einfach, wie es scheint. Alle Regentinnen haben in bestimmten Situationen Befehle erteilt, die keinen Sinn zu ergeben schienen. Doch später konnte man stets erkennen, weshalb diese Anordnungen erlassen worden waren. Doch keine der vorherigen Regentinnen hat sich so … verändert , solange sie auf dem Thron saß. Nicht so wie die derzeitige Regentin. Sie ist seit dem Feuer eine andere geworden. Viele ihrer Befehle sind tatsächlich sinnlos. Beispielsweise besteht kein Grund, den Hafen zu schließen, und auch nicht, die Stadt von der Palastgarde überwachen zu lassen, als wäre sie ein Gefängnis.«
    »Also kam das nicht von Euch«, warf Borund ein. »Oder von Baill.«
    Avrell schüttelte den Kopf. »Nein, das kam unmittelbar von der Regentin.«
    Er verstummte, als wäre er unschlüssig, ob er noch mehr sagen sollte. Dabei beobachtete er Borund aufmerksam, ehe er sich mir zuwandte.
    Ich blieb vollkommen still und versuchte, eine ausdruckslose Miene zu bewahren.
    Avrell betrachtete mich noch einen Augenblick; dann straffte er die Schultern und wandte sich wieder Borund zu, als wäre er zu einer Entscheidung gelangt. »In den vergangenen Monaten ist die Handlungsweise der Regentin eigenwillig, ja unsinnig geworden. Sie besteigt zu den seltsamsten Zeiten den Thron und starrt aufs Meer, sogar mitten in der Nacht oder bei Regen. Sie durchstreift die Gänge des Palastes, manchmal vor sich hin murmelnd, manchmal lachend, manchmal singend, oft in Sprachen, die niemand versteht. Ich habe Wachen an der Tür zu ihren Gemächern postiert, die ihr folgen und dafür sorgen sollen, dass sie sich nicht selbst verletzt, aber irgendwie gelingtes ihr immer, die Wachen abzuschütteln. Vor kaum zwei Tagen lief ich ihr in einem der Gärten über den Weg, wo sie auf die Wurzeln eines Baumes starrte. Sie sagte zu mir, das Meer sei rot vor Blut, der Thron geborsten, und der Garten sei einst ein Platz gewesen. Ich brachte sie zurück in ihre Gemächer. Die Wachen versicherten mir, sie hätten nicht gesehen, wie

Weitere Kostenlose Bücher