DIE ASSASSINE
lassen. Dann würde es keine Toten mehr geben, keine Opfer. Nichts mehr.
Aber dann würde die Regentin niemals frei sein.
Nein, nicht die Regentin. Ihr Name lautete Eryn. Eryn würde nicht frei sein.
Und was würde aus Amenkor? Die Regentin hatte gesagt, die Stadt würde überleben, allerdings nur mit knapper Not. Sie würde überleben, aber nicht mehr dieselbe sein.
Ich starrte zu den Schemen empor, die sich über dem Wasser bewegten, verschwommen bis zur Unkenntlichkeit. Die Gestalten der Menschen im Thron, jene, die ihn erschaffen hatten, jene, die seit seiner Entstehung darauf gesessen oder ihn berührt hatten.
Wenn ich bliebe, müsste ich eine Möglichkeit finden, sie zu beherrschen …
Plötzlich wurde mir klar, dass ich die Lösung wusste. Es war genau wie bei der Menschenmenge in der Schänke. Ich hatte die Wahl: Ich konnte Ash sein, konnte mich zurücklehnen und beobachten, konnte über dem Leichnam Amenkors schweben und nichts unternehmen, konnte mich vom Thron überwältigen und von den Gardisten fortschicken lassen, wohin sie wollten.
Oder ich konnte Varis sein. Rücksichtslos. Hart. Mächtig. Ich konnte die Herrschaft an mich reißen.
Das ist es, was ich bin.
Ich holte tief Luft und zog alles zusammen, was ich für mich selbst hielt, all meine Erinnerungen vom Siel, all meine Gefühle, alles, was mich ausmachte, und verwob es.
Und dann schob ich mich durchs Wasser empor. Ich ließmeine Mutter zurück. Ich ließ das sechsjährige Mädchen namens Ash zurück. Das war ich nicht mehr. Ich hatte mich verändert.
Im letzten Augenblick, unmittelbar bevor ich die Wasseroberfläche erreichte, spürte ich die Hände der Regentin – Eryns Hände –, die sich herabstreckten, mir unter die Arme fassten und halfen, mich hinauf ins Sonnenlicht zu ziehen.
Willkommen auf dem Thron, Varis.
Und es war genau wie in der Schänke.
Ich schlug die Augen auf und erblickte den Thronsaal Amenkors. Baill und Avrell standen ein paar Schritte vor dem Podium und beobachteten mich eingehend. Baill hatte das Schwert gezogen, doch er stand einen Schritt hinter Avrell, und der Oberhofmarschall der Regentin hielt ihn mit einer Hand zurück. Die anderen Gardisten hielten sich weiter im Hintergrund, scharten sich um die zerbrochene Tür des Thronsaals und um die Säulen rechts und links.
Ich blickte hinunter. Die Regentin war zusammengebrochen, lag verrenkt auf dem Boden. Ihr Gesicht wirkte ausgemergelt und glänzte vor Schweiß und Tränen.
Unter mir krümmte und wand der Thron sich nicht mehr, verzerrte sich nicht mehr in unterschiedliche Formen. Er hatte sich zu einem Steingebilde mit Armlehnen, doch ohne Rückenteil verfestigt. Die Ränder der Armlehnen waren nach unten gebogen. Meine Arme ruhten auf den Rändern, meine Hände umfassten die Enden. Mein Rücken war starr.
Ich spürte ein tiefes Pochen rings um mich und erkannte es aus Eryns Erinnerung an den Turm.
Es war die Stadt. Amenkor. Vom Siel bis zum Palast. Ein anhaltendes Pulsieren wimmelnden Lebens. Ich konnte mich strecken, konnte jedes dieser Leben berühren, wenn ich wollte,konnte alle diese Leben beobachten, konnte ihnen helfen – denen in den Elendsvierteln, die sich durch Unrat wühlten, denen am Kai und auf den Schiffen, die im Hafen festlagen. Selbst denen, die sich durch das verbrannte Geröll des Lagerhausviertels wühlten.
Ich holte tief Luft, spürte die Stadt warm und lebendig in mir.
Seufzend atmete ich aus. Die Stadt konnte warten.
Ich wandte mich der Frau vor dem Thron zu, die sich zu regen begann. Im Fluss umfingen sie Kraftfäden, die sie an den Thron banden. Behutsam machte ich mich daran, die Fäden zu entwirren. Die Stimmen kämpften gegen mich, doch ich kannte mich und schenkte ihnen keine Beachtung, drängte sie in den Hintergrund, wie ich es mein Leben lang mit all jenen Geräuschen des Siels getan hatte, die ich als unbedeutend empfand. Genau wie in der Schänke.
Als die Frau vor dem Thron vollständig erwacht war und sich stöhnend aufsetzte, war sie nicht mehr die Regentin. Sie war wieder Eryn, ganz sie selbst.
Zitternd hob sie eine Hand an den Kopf und stöhnte; dann warf sie einen Blick auf mich. Avrell trat mit ausgestreckter Hand auf sie zu.
»Regentin?«
Sie drehte sich ihm zu und schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie nur, ehe sie schluchzend das Gesicht in den Händen verbarg.
Avrell ließ den Arm sinken, richtete sich auf und wandte sich mir zu. Sein Antlitz wurde ernst, und er verschränkte in einer förmlichen
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