DIE ASSASSINE
dass es standhalten würde.
Ich entspannte mich, lehnte mich in der Enge des Schildes zurück. Ihn zu bewahren kostete mich zwar immer noch Mühe, aber nicht so viel, wie ich gedacht hatte. Ewig könnte ich ihn nicht aufrechterhalten, aber vorerst …
Ich holte tief Luft und blies sie als tiefen Seufzer aus.
Varis.
Im Weiß des Schildes glich die Stimme kaum einem Flüstern, mehr dem Scharren von Laub, das über Kopfsteinpflaster geweht wird.
Varis.
Ich bewegte mich auf den Laut zu. Rings um mich tobte der Thron mit seinen zornigen Stimmen. Einige spien Flüche hervor, andere heulten, wieder andere jammerten. Eine Gruppe vereinte ihre Kräfte und brandete gegen das Feuer, wodurch ich gezwungen wurde, sie zurückzukämpfen. Ich schmeckte Schweiß und Blut an meinen Lippen. Die Gruppe zog sich zurück.
Varis.
Ich fand die Stimme. Eine Frauenstimme, tief und kehlig. Eine Stimme, die ich erkannte. Es war die Frau, die zuvor gesungen hatte. Nicht das Kind, nicht die Greisin. Auch keine Verschmelzung mehrerer Stimmen. Eine einzelne Stimme, leise und ruhig, doch mit Angst getönt.
Varis, es bleibt nicht viel Zeit.
Ich bin hier , dachte ich und hielt am Rand des Feuers inne. Die Frauenstimme erklang auf der anderen Seite, aus dem Wirbel der übrigen Stimmen.
Ein Seufzen, ein Hauch von Wein und Käse, von Verzweiflung. Du musst die Herrschaft übernehmen. Ich kann sie nicht länger halten.
Ich schauderte. Die Herrschaft worüber?
Über den Geisterthron.
Ich verstehe nicht. Das Feuer flackerte. Ich richtete es wieder auf, schmeckte meinen Schweiß, salzig und Übelkeit erregend.
Der Thron. Darum dreht es sich bei alldem, Varis. All diese Stimmen, all diese Leute – sie sind die Männer und Frauen, die den Thron erschaffen und die seither darauf gesessen haben. Sie alle – all ihre Gedanken, ihre Hoffnungen und Träume. Sie sind der Thron. Aber sie brauchen jemanden, der sie beherrscht, befehligt, sie im Zaum hält.
Du beherrschst sie.
Ein Schnauben, ein Seufzen. Wieder der Geruch von Wein und Käse. Ich habe sie einmal beherrscht. Aber jetzt nicht mehr. Etwas ist geschehen. Etwas ist mit dem Thron geschehen, als das Feuer durch ihn strich. Aber die Veränderung war unscheinbar. Ich habe sie erst viel später bemerkt, viel zu spät, als ich schon nichts mehr tun konnte. Und die anderen Stimmen … Oh, ihr Götter …
Furcht sickerte durch das Feuer, sammelte sich wie Öl, dick und zäh. Ich hörte ein Schluchzen.
Du musst die Herrschaft übernehmen, Varis. Ich kann sie nicht mehr zusammenhalten. Es sind zu viele. Viel zu viele! Ich konnte sie heute Nacht im Thronsaal kaum bändigen.
Ich schüttelte den Kopf. Nein.
Du musst! Nun klang die Stimme wieder forsch und kalt. Die Stimme einer Frau, die gewöhnt war, dass man ihr gehorchte. Du musst meinen Platz einnehmen, musst die Regentin werden, sonst ist Amenkor dem Untergang geweiht. Ich werde die Stadt zerstören, ohne zu wissen, was ich tue. Ich werde sie vernichten, Varis, ohne es zu wollen. Es hat bereits begonnen. Du musst es aufhalten.
Nein.
Stille. Dann musst du mich töten.
Ich zuckte zusammen, spürte Schweiß an den Augenwinkeln und blinzelte Tränen weg. Und wenn ich dich töte, was wird dann aus der Stadt?
Schweigen. Irgendetwas jenseits des Feuers veränderte sich, ein Zittern, ein Bündeln von Kräften, das vertraut wirkte, das ich im Fluss viele Male getan hatte, nur war es diesmal sehr viel machtvoller.
Die Regentin drängte vorwärts, um zu sehen, was geschehen würde. Einen Lidschlag lang verstummten die Stimmen, die das Feuer umtosten, und schwiegen erwartungsvoll.
Die Stadt wird überleben , sagte die Regentin mit einem tiefen Seufzer, und die Kräfte wogten zurück. Aber nur knapp, und nicht, wie sie jetzt ist, nicht als Amenkor. Sie wird sich völlig verändern. Und viele werden sterben.
Die Stimmen zögerten wie benommen, dann erwachten sie brüllend wieder zum Leben.
Warum?
Weil die Stadt eine Herrscherin braucht. Ich habe so viel Schaden angerichtet …
Nein , fiel ich ihr ins Wort. Warum ich?
Stille. Weil du die Sicht besitzt. Das, was du den Fluss nennst. Weil du weißt, wie man überlebt. Die Frau hielt kurz inne, fuhr dann fort: Und weil das Feuer auch dich verändert hat. Ich habe es gespürt, ehe ich dich auf den Thron gestoßen habe, aber ich habe es nicht voll erkannt. Das Feuer schützt dich. Jetzt fühle ich es ganz deutlich. Nur du kannst es, Varis. Ich glaube nicht, dass noch jemand anders dem Thron gewachsen
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